Berdytschiw, Ukraine. Die Juden, Balzac, ein Kloster. Und das Bier.

Der deutsche Wikipedia-Eintrag zu der ukrainischen Stadt Berdytschiw (Бердичівumfasst nur rund 6000 Zeichen. Ein Drittel davon, der Haupttext, beschäftigt sich mit der Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung der Stadt durch die deutschen Besatzungstruppen 1941/42. Mehr als 30 000 jüdische Einwohner der Stadt wurden damals von den Deutschen umgebracht. Als die Sowjets im Januar 1944 die Stadt befreiten, trafen sich von der einstigen jüdischen Mehrheitsbevölkerung von Berdytschiw noch 15 Juden lebend an.

So war es. Leider auch nicht nur in Berdytschiw, sondern in tausenden anderen ukrainischen  Städten und Dörfern. Und doch ist dieses beispiellose Verbrechen nur ein kleiner Teil der reichen Geschichte der Stadt (und des Landes), die ansonsten auch nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart hat.

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Sehenswert ist das alte, römisch-katholische Karmeliter-Kloster der Stadt, ein Relikt der polnischen Vergangenheit von Berdytschiw. Davon, dass sie einst als Festung gegen die Tataren errichtet wurde, die noch im 16. Jahrhundert bis hierher gen Westen vorstießen, zeugen noch die mächtigen Mauern, die sie umgeben, sowie einige Kanonen, die den Eingang säumen. Seit 1628 aber, seit die Gefahr durch die Tataren weitgehend gebannt schien, entstand inmitten der Festungsmauern eine große Kirche und ein Kloster. Es war, auch wenn viele katholische Polen in der Stadt lebten,  im politisch-ethnisch polnisch-russischen und religiös katholisch-orthodoxen Dauerkonflikt kein einfaches Pflaster, mehrfach mussten die katholischen Mönche ihren Platz räumen, jedesmal kehrten sie zurück. Selbst nachdem die Bolschewiken die Stadt im ukrainischen Bürgerkrieg 1918/20 einnahmen, hielten sich die katholischen Mönche noch eine Weile. 1926 beschlagnahmten die Sowjets das Kloster und seine 300jährige Geschichte schien damit zu enden. Ein Teil beherbergte seitdem ein Museum, ein anderer ein Kino. In den 70er Jahren begannen Restaurierungen und 1992, nach dem Ende der Sowjetunion, bekam die katholische Kirche den Klosterberg der Karmeliter zurück.

Das römisch-katholische Karmeliterkloster von Berdytschiw
Das römisch-katholische Karmeliterkloster von Berdytschiw

Der französische Schriftsteller Honoré de Balzac (1799 bis 1850) galt als genialer Schreiber, aber auch als Chaot.  Schulden und Existenznot bestimmten weite Teile seines Lebens, ein Foto aus dem Jahr 1842 zeigt ihn übergewichtig und ungepflegt, doch kreativ. Bei den Damen hatte er trotzdem Erfolge und auch in Berdytschiw hatte er eine Bewunderin, die reiche Gräfin Evelyne Hańska, die ihm aus ihrer entfernten, damals russischen Provinz, glühende Briefe nach Paris schrieb. Im Frühjahr 1850 reiste er nach Berdytschiw und heiratete sie dort im März  in der dortigen Kirche St. Barbara (Св.варвары) –  gerüchteweise auch, weil sie seine Schulden bezahlte. Lange währte das Eheglück nicht. Im August 1850 starb Balzac in Paris, kurz nach seiner Rückkehr.

Die Kirche der heiligen Barbara in Berdytschiw, in der Honore de Balzac 1850 heiratete.
Die Kirche der heiligen Barbara in Berdytschiw, in der Honore de Balzac 1850 heiratete.

Auf vielen alten Landkarten Zentraleuropas ist Berdytschiw sehr prominent verzeichnet, oft sogar größer als die heutige Bezirkshauptstadt des Gebietes, Schitomir.  Mit mehr als 50 000 Einwohner war es zur Jahrhundertwende kein “Schtetl”, sondern eine Großstadt. Heute hat Berdytschiw 77 000 Einwohner.

Zeugnis der jahrhundertelangen jüdischen Geschichte der Stadt ist der große jüdische Friedhof der Stadt. 55 Prozent der Bevölkerung von Berdytschiw waren noch im Jahr 1926 jüdisch, auch wenn die Juden, wie alle Religionsgemeinschaften, schon damals von den neuen sowjetischen Machthabern schikaniert wurden.  Nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion 1941 wurden die Juden der Ukraine systematisch ermordet. Sonderkommandos durchkämmten Städte und Dörfer, die Juden wurden  auch mit Hilfe der deutschen Besatzungsarmee zusammengetrieben und meist am Stadt- oder Dorfrand erschossen, andere 1942 in die auf besetztem polnischen Territorium liegenden deutschen Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. In der westlichen Ukraine, in der oft nur wenig Zeit zur Flucht blieb, überlebten nur einzelne diesen Massenmord. Berdytschiw, geprägt vom orthodoxen Judentum, war besonders betroffen.  Mehr als 30 000 Juden wurden hier von den Deutschen ermordet.
Anders als im Deutschen Reich, wo SS und Gestapo auch die jüdischen Friedhöfe auslöschten, blieb als stummer Zeuge der große jüdische Friedhof erhalten. Einige wenige Gräber aus der späten Sowjetzeit zeugen dort von den Überlebenden der Shoah. Heute ist das jüdische Leben weitgehend erloschen, weil mit dem Ende der Sowjetunion die meisten Juden, die noch da waren, die Gelegenheit nutzten, um auszuwandern. Nach Israel oder in die USA. Und, ausgerechnet, auch nach Deutschland, das ihnen bevorzugte Einwanderungsmöglichkeiten als “Kontingentflüchtlinge” bot.

Der alte jüdische Friedhof von Berdytschiw
Der alte jüdische Friedhof von Berdytschiw
Der alte jüdische Friedhof von Berdytschiw. Mahnmal für die von den Deutschen ermordeten Juden der Stadt.
Der alte jüdische Friedhof von Berdytschiw. Mahnmal für die von den Deutschen ermordeten Juden der Stadt.

Das heutige Berdytschiw ist eine ukrainische Stadt. Sie hat rund 30 größere Unternehmen im Bereich Textilindustrie, Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Lebensmittelproduktion. Im ganzen Land bekannt ist die Brauerei von Berdytschiw, die angeblich das beste Bier der Ukraine braut. Eine kleine aber beliebte Marke, die es auch nicht überall zu kaufen gibt.  Daneben gibt es, wie überall in der Ukraine, tausende Kleinunternehmer.  Der umgebende südliche Schitomirer Bezirk ist geprägt von Landwirtschaft, die zwar von der guten Schwarzerde der Region profitiert, aber bis heute unter denen im ganzen Land verbreiteten Strukturproblemen nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft leidet. Kredite für Investitionen in Technik zu bekommen ist schwer, weil aufgrund des maroden Bankensystems sowohl die Zinsen als auch das Währungsriskiko hoch sind, Kapital ist Mangelware, die Dorfstraßen sind gesäumt von Ruinen von einstigen Kolchos-Gebäuden. Viele Kleinbauern betreiben, wie einst Subsistenz-Wirtschaft von Hand. Daneben sind aber auch viele, oft dutzende Hektar große Felder bestellt von neuen privaten Großbetrieben, deren Hoffnung vor allem in den westeuropäischen Absatzmärkten liegt, die sich mit dem neuen Assoziierungsabkommen mit der EU noch mehr als bisher erschließen könnten.

 

 

 

 

 

 

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