erschienen in SUPERillu Heft 31/2014, Autor: Gerald Praschl
Sie flogen von Amsterdam nach Malaysia. Einige zu einem Kongress, andere zu Verwandten, viele auch einfach nur in den Urlaub. Und sie starben im ukrainischen Bürgerkrieg. Als die Rakete einschlug, war das Flugzeug schon drei Stunden in der Luft.
Das Geschoss muss die Maschine noch in der Luft zerrissen haben. Menschen und Trümmer wurden herausgeschleudert. Aus 10 000 Metern Höhe fielen sie herab. Maximal 150 Sekunden vergingen bis zum Aufschlag auf den Boden,zweieinhalb Minuten.
Die Tatwaffe. Wer macht so etwas? Die Beweislage scheint relativ klar. Der Malaysia-Airlines-Flug MH 17 wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Flugabwehrrakete sowjetischer Bauart, Typ „Buk“ („Buche“), getrofffen. Solche „Buk“-Raketen, in den 60er-Jahren entwickelt, waren ein Rückgrat der sowjetischen Luftabwehr. Sie können Flugzeuge aus bis zu 25 km Höhe abschießen, haben aus militärischer Sicht gegenüber dem fest installierten Flugabwehrsystem den Vorteil, dass sie klein und mobil sind. Dafür haben sie keine große Reichweite. Die 690 Kilogramm schweren „Buk“-Raketen, die auf einem Kettenfahrzeug montiert sind, treffen nur im Radius von 45 Kilometern.
Die Täter. Die Schützen saßen demnach also ganz nah an der späteren Absturzstelle. Das gesamte Gebiet wird seit Monaten von russischen Freischärlern kontrolliert, die dort einen eigenen Staat, die „Donezker Volksrepublik“, ausgerufen haben. Die ukrainische Regierung, seit der Wahl am 25. Mai unter Präsident Petro Poroschenko, führt seit Monaten eine militärische Großoffensive gegen diese Separatisten. Einige Städte wie Slawiansk wurden von den Ukrainern zurückerobert, nun stehen sie vor den Toren der Millionenstadt Donezk, die in der Hand der Rebellen ist. Gleichzeitig gab es in den letzten Wochen aber auch Rückschläge für die Ukrainer. Mehrere ihrer Flugzeuge wurden von den Freischärlern abgeschossen, zuletzt am 13. Juli, vier Tage vor der Malaysian-Katastrophe eine Antonow-26 mit 20 Insassen. Dass dieses Flugzeug, anders als bei vorherigen Abschüssen, aus großer Höhe (6 000 Meter) vom Himmel geholt wurde, deutete darauf hin, dass die Rebellen neuerdings nicht nur über einfache Boden-Luft-Raketen, sondern über schwere Flugabwehr wie die „Buk“ verfügen.
Der Leichtsinn. Kleine Flugabwehrgeschosse, wie sie in vielen Krisengebieten dieser Welt anzutreffen sind, reichen nämlich nur bis maximal 4 000 Meter Höhe. Deshalb gelten viele Lufträume selbst über Bürgerkriegsgebieten als „sicher“. Thailand-Touristen fliegen über Afghanistan. Dubai-Reisende überqueren den Irak. Südafrika-Besucher fliegen über den Kongo. Die Fluggesellschaften argumentieren damit, dass Kämpfer am Boden dort gar nicht in der Lage seien, ein Flugzeug aus großer Höhe abzuschießen. „Nebenbei“ sparen sie damit teuren Sprit für lange Umwege. Meistens geht diese Rechnung auf. Doch am 17. Juli endete sie verhängnisvoll…
Einige große Fluglinien wie Air Berlin, Air France, Korean Airlines oder British Airways fliegen trotzdem schon seit Längerem nicht mehr über das Krisengebiet in der Ost-Ukraine. Andere schon. Allein die Deutsche Lufthansa überflog das Kriegs-gebiet in der letzten Woche vor dem Abschuss 56-mal. Zum Zeitpunkt des Abschusses war die Lufthansa-Maschine LH 772 Frankurt-Bangkok schon in der Luft und auf Kurs auf die Ost-Ukraine. Über Böhmen wurde sie nach der Nachricht über den Abschuss auf einen nördlicheren Kurs, über Russland, umgelenkt, landete deswegen mit zwei Stunden Verspätung in Bangkok. Ein anderer Lufthansa-Flieger, LH 762 von München nach Neu-Delhi, passierte die Abschussregion nur eine halbe Stunde zuvor. Es ist also Zufall, dass kein Lufthansa-Flieger vom Himmel geholt wurde.
Die Beweise. Die russischen Rebellen streiten ihre Verantwortung für den Abschuss ab. Dass sie es trotzdem waren, dafür gibt es aber recht augenscheinliche Beweise. So brüstete sich ihr Kommandant, Igor „Strelkow“ Girkin, ein Waffennarr aus Moskau, in den Minuten nach dem Abschuss sogar noch damit. Im russischen Facebook, „Vkontakte“, postete er, man habe ein „Vögelchen“ von „unserem Himmel“ geholt, eine Militärmaschine Antonow-26.
Als sich kurz darauf herausstellte, dass es keine ukrainische Militärmaschine war, sondern ein Ferienflieger, löschte er seine Triumphmeldung schnell wieder. Doch das Internet vergisst nicht. Girkin behauptet seitdem, die Ukrainer hätten das Flugzeug abgeschossen. Und noch bizarrer: Er meint ernsthaft, zum Zeitpunkt des Absturzes seien die Passagiere schon tagelang tot gewesen. Ein Beleg für seinen Geisteszustand. Weitere Belege für die Urheberschaft der Katastrophe sind, dass ein von Rebellen kontrolliertes „Buk“-Abschusssystem kurz vor und kurz nach der Tat in der Nähe gesichtet wurde.
Eine komplizierte Frage ist, wer vor Ort in dem Rebellengebiet eigentlich die Fäden zieht. Und wer den Befehl zum Abschuss gab.
Die beiden mächstigsten Männer der „Donezker Volksrepublik“ sind beides keine Einheimischen. Igor Girkin, 43, der Militärkommandant, und Aleksandr Borodaj, 42, der „Premier“, stammen beide aus Moskau. Girkin war dort als schriller Waffennarr bekannt, der gerne Schlachten aus dem russischen Bürgerkrieg 1920 nachstellte, mit sich selbst als Maschinengewehrschütze „Strelkow“. Im Februar verschwand er aus Moskau, flog auf die Krim. Seit März ist er „Oberst“ und Kommandant in der Ost-Ukraine, soll dort auch für Entführungen, Folter und Hinrichtungen verantwortlich sein. Aleksandr Borodaj ist „Philosoph“ und „Journalist“ des rechtsradikalen Moskauer Blattes „Sawtra“ („Morgen“), soll schon an vielen ähnlichen Kriegsschauplätzen, in denen es ums „russische Imperium“ ging, als Kämpfer dabei gewesen sein, unter anderem im Tschetschenienkrieg. Ob sie als Agenten der russischen Geheimpolizei in die Ukraine kamen oder aus eigenem Antrieb, ist strittig. Fakt ist aber, dass die Rebellen militärisch von russischer Seite unterstützt werden. Neben zugereisten Fanatikern, Söldnern und Abenteurern kämpfen auch einige Tausend Einhei- mische auf Seiten der Separatisten. Die weitaus meisten der sieben Millionen Menschen der Region kämpfen weder für noch gegen die Rebellen.
Die Putin-Frage. Die Urheberschaft scheint also geklärt, die Frage ist nur: Wer lieferte solchen Rambos wie Girkin eine derartig gefährliche Technik wie die „Buk“? Vieles spricht dafür, dass Russlands Präsident Wladimir Putin dafür verantwortlich ist. Die Rebellen selbst behaupten, sie hätten die „Buk“ beim Sturm auf eine ukrainische Kaserne Ende Juni erbeutet.
Dagegen spricht, dass man, um damit ein Flugzeug abzuschießen, nicht nur die aus drei Panzerfahrzeugen bestehende „Buk“-Technik braucht. Sondern auch mindestens 18 Mann speziell geschultes Personal. Möglich also, dass der angebliche Diebstahl nur verdecken soll, dass die Technik nebst Spezialisten frei Haus von Putin kam.
Dafür spricht, dass in den letzten Wochen auch ansonsten große Mengen schwerer Waffen von Russland zu den Rebellen in die Ukraine gelangten – darunter ganze Kolonnen von Panzern T-64, mit denen einst auch die NVA ausgestattet war. Kaum ein Beobachter glaubt, dass so etwas ohne Putins ausdrücklichen Befehl möglich wäre – in Russland, das keineswegs mehr die Anarchie der 90er-Jahre ist, sondern sich immer mehr zu einem von den Kremlherren bestens überwachten und gleichgeschalteten Polizeistaat entwickelt, wie zur Sowjetzeit.
Und aus demselben Grund zweifelt auch keiner daran, dass Putin auch jetzt in der Lage wäre, für eine lückenlose Aufklärung des Abschusses zu sorgen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen – wenn er das denn wollte…