Der Mann, der die Menschheit ins All brachte

Den ersten Menschen im Weltraum kennt die ganze Welt, den Russen Juri Gagarin. Den Mann, der das technisch möglich machte, Sergej Koroljow (1906-1966), kannten lange Zeit nur wenige. Und auch nicht das Drama seines Lebens, das eng mit den dunkelsten Kapiteln der sowjetischen Geschichte verbunden ist.

Von Gerald Praschl

Erschienen im Superillu-Sonderheft “Russlands Tausend Gesichter” 2019 , erhältlich als PDF hier.

Der erste bemannte Raumflug, am 12. April 1961, dauert 1 Stunde und 48 Minuten. Im sowjetischen Baikonur startet die Rakete morgens um 9 Uhr und 7 Minuten Moskauer Zeit ins All. Nach exakt einer Erdumkreisung, über den Pazifik, Südamerika, den Atlantik, die Sahara und Nahost, landet die Kapsel, sanft von einem Fallschirm gebremst, nahe Saratow an der Wolga wieder in der Sowjetunion. Und zwei Kilometer weiter, ebenfalls mit dem Fallschirm, der Pilot. Noch während des Fluges geht die Nachricht um die Welt: „Hier spricht Radio Moskau. (…) Das erste Raumschiff der Welt, Wostok, ist heute von der Sowjetunion aus mit einem Menschen an Bord in einen Orbit über der Erde gestartet worden. Der Kosmonautenpilot des Raumschiffs Wostok ist ein Bürger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin.“ 

Doch von dem Mann, der all das möglich machte, erfuhr die Welt damals zunächst nichts. Denn der Name des Chefs des sowjetischen Weltraum-Programms, Sergej Pawlowitsch Koroljow, galt zu seinen Lebzeiten als Staatsgeheimnis, anders als der seines großen Konkurrenten im Westen, Wernher von Braun (1912-1977), dem aus Deutschland stammenden Chef des US-Weltraumprogramms. 1933, im Alter von erst 27, war der gebürtige Ukrainer Koroljow zum Vize-Chef des ersten sowjetischen Raketenforschungsinstituts in Moskau aufgestiegen. Er erforschte, wie man geeignete Raketentriebwerke entwickeln könnte, um ins Weltall vorzudringen. Die politische Führung der Sowjetunion unter Josef Stalin war dagegen nur am militärischen Nutzen der neuen Technik interessiert. So entwickelte das Institut auch den Raketenwerfer Katjuscha, der als Stalinorgel im Zweiten Weltkrieg eine große Rolle spielte. Dann kam Stalins Geheimpolizei.

1938 wurden Koroljow und mehrere seiner Kollegen als vermeintliche „Konterrevolutionäre“ und „Saboteure“ verhaftet – wie Millionen andere Unschuldige. Koroljows Chef Iwan Kleimjonow und andere Raketenforscher wurden exekutiert. Auch Koroljow stand zunächst auf der Todesliste. Sie folterten ihn, brachen ihm den Kiefer. Am Ende bekam er „nur“ zehn Jahre Arbeitslager, sie deportierten ihn dazu in die „Hölle von Kolyma“, einem Gebiet im fernen Osten Sibiriens, wo Lagerhäftlinge unter mörderischen Bedingungen beim Bau einer Straße in der Taiga und im Bergbau eingesetzt wurden und dabei massenhaft umkamen. Ein Jahr überlebte er dort als normaler Häftling, starb beinahe an Skorbut. Lange hätte er es sicher nicht mehr geschafft. Er wäre genauso umgekommen wie Zehntausende andere, deren Gebeine bis heute unter dem Schotter der Kolyma-Trasse ruhen, wenn ihn nicht sein Fachwissen gerettet hätte. Der Flugzeugbauer Andrej Tupolew, damals selbst Lagerhäftling, holte ihn 1940 in sein Konstruktionsbüro, in dem hinter hohen Lagerzäunen zunächst die Pläne für einen kriegswichtigen, sowjetischen Bomber, den „Tu-2“, entstanden. Bald konnte Koroljow auch seine Forschung am Bau von Raketen wieder aufnehmen, 1944 wurde er aus der Haft entlassen – ohne jedoch formal rehabilitiert zu werden. Noch im selben Jahr wurde er Chef eines Raketenforschungsinstituts in Kasan.

inen entscheidenden Schritt vorwärts auf dem Weg ins Weltall brachte ihn wahrscheinlich auch deutsche Technik. Im Herbst 1945 flog er ins von den Sowjets besetzte Thüringen, um in Nordhausen die Konstruktion der dort in einer unterirdischen Fabrik von den Nazis gebauten V2-Rakete zu erforschen. Zurück in seiner sowjetischen Heimat, bekam er vom Kreml den Auftrag, diese nachzubauen – ein weiterer Schritt bei seinem Aufstieg zum Chef des sowjetischen Raketenbaus. Mit Nikita Chruschtschow, der bald nach Stalins Tod 1953 der neue alleinige Machthaber wurde, fand Koroljow einen technikbegeisterten Unterstützer. Wobei den Kremlchef neben Koroljows Träumen vom Weltall an dessen Raketen natürlich vor allem auch der militärische Nutzen interessierte. Die von Koroljow entwickelte R-7-Rakete erwies sich aber als recht ungeeignet, sowjetische Atombomben bis zum Feind in die USA zu schießen. Zu schwerfällig, zu leicht vom Gegner auszuschalten. Für die Raumfahrt dagegen war sie viel besser geeignet. Aus seinen für militärische Zwecke gebauten Raketen vom Typ R-7 entwickelte Koroljow durch den Einbau zusätzlicher Zündstufen seine ersten Raketen fürs Weltall.

Mit ihnen schoss er am 4. Oktober 1957 den ersten Satelliten, den Sputnik, ins All und beförderte die Menschheit damit ins Raumfahrtzeitalter. Vier Wochen später hob Sputnik-2 mit Hündin Laika ab, dem ersten Lebewesen im All. Fieberhaft bemühten sich die USA nach diesem „Sputnik-Schock“ den sowjetischen Vorsprung aufzuholen. Denn längst war das Rennen im All zu einer Propaganda-Schlacht im Kalten Krieg geworden. Ein Umstand, der Wissenschaftlern auf beiden Seiten zugute kam. Sowohl Koroljow als auch sein US-amerikanischer Konkurrent Wernher von Braun hatten deswegen zeitweise von ihrer politischen Führung fast unbeschränkte Mittel zur Verfügung. Auch den nächsten – und größten – Sieg räumten dank Koroljow die Sowjets ab, mit Gagarins legendärem Flug ins All 1961. Im Rennen um den ersten Menschen auf dem Mond mischte Koroljow ebenfalls noch mit. Bereits in den 50er-Jahren hatte er Sowjetführer Nikita Chruschtschow davon überzeugt, dass eine Landung auf dem Mond ein besonders prestigeträchtiges Zeichen für die Überlegenheit des ­Sozialismus sein könnte. Doch Chruschtschows Nachfolger Leonid Breschnew, der 1964 an die Macht kam, legte nicht so viel Wert darauf, zu groß waren die wirtschaftlichen Probleme in seinem irdischen Reich. So hatten mit der US-Mondlandung 1969 einmal auch die Amerikaner die Nase vorn. 

Koroljow erlebte das nicht mehr. Er starb überraschend im Alter von nur 59 Jahren 1966 an den Folgen einer Routineoperation. Als während deren Verlauf plötzlich künstliche Beatmung nötig wurde, schafften die Ärzte es nicht, ihm die ­Beatmungsschläuche zu legen – wegen seines kaputten Kiefers aus der Zeit in Stalins Folterkellern. Wenn sich die Welt in tausend Jahren an die wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert, wird die Geschichte von Sergej Koroljow und Juri Gagarin dabei sehr weit oben stehen. Und Stalin hoffentlich nur noch eine Fußnote dieser Geschichte sein.

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