Der schwierige Begriff vom „Tag der Befreiung“

Wer vom „Tag der Befreiung” redet, spricht ohne Absicht all jene frei, die Mitschuld trugen. Im Osten Deutschlands ist der Begriff zudem doppelt belastet. Ein Kommentar zum historischen Jahrestag von unserem Politikchef Gerald Praschl  – erschienen am 7. Mai 2020, https://www.superillu.de/der-schwierige-begriff-vom-tag-der-befreiung

Ein sowjetischer Kriegsveteran bei der Gedenkfeier der Botschaft der Ukraine zum "Tag der Erinnerung und Versöhnung" am 8. Mai 2020 in Berlin
Ein sowjetischer Kriegsveteran bei der Gedenkfeier der Botschaft der Ukraine zum „Tag der Erinnerung und Versöhnung“ am 8. Mai 2020 in Berlin


Zur DDR-Zeit heißt der 8. Mai „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus”, das Land Berlin feiert am 8. Mai 2020 den „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus” als Feiertag.

Im Westen prägte spätestens Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 den Begriff vom „Tag der Befreiung“. Vor dem Bundestag sagt er damals in seiner viel beachteten Rede: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.”

Doch allzu befreit kommen sich im Mai 1945 die meisten Deutschen sicher nicht vor. Abgesehen von befreiten KZ-Häftlingen, Holocaust-Überlebenden und heimlichen Widerständlern, zu denen auch Weizsäcker als junger Offizier gehörte. Die große Mehrheit der Deutschen hat Hitler zugejubelt und blickt der bitteren Wahrheit lange Zeit nur widerwillig in die Augen. Oder nie.

Zwölf Jahre Hitler haben das Land in Trümmer gelegt. Millionen sind tot oder in Gefangenschaft. Der deutsche Name ist auf ewig beschmutzt durch den Völkermord an Europas Juden, die verbrecherischen Überfälle auf die Nachbarn und unzählige weitere Schandtaten, für die jeder, der Hitler bejubelte, eine Mitverantwortung trägt.

Wer diesen kollektiv zubilligt, am 8. Mai 1945 „befreit” worden zu sein, der spricht sie – ohne Absicht – von dieser Mitverantwortung frei und verklärt sie gar zu unschuldigen Geiselopfern einer kleinen schuldigen Nazischar um Hitler & Co. Oder er erklärt – wie das die SED zur DDR-Zeit mit voller Absicht tat – sein eigenes Volk mit diesem Begriff zum kollektiven „antifaschistischen” Unschuldslamm, das derart moralisch erhöht umso überzeugter mit dem Finger auf die braunen Brüder im feindlichen Westen zeigen kann.

So schön der Begriff vom „Tag der Befreiung” ist, so schwierig ist er. Erst recht im Osten Deutschlands und im Osten Europas, wo der 8. Mai 1945 auf lange Sicht keineswegs die Freiheit brachte.

Ein Rückblick auf den Sommer 1945. Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich teilen sich das Gebiet der heutigen Bundesrepublik in vier Besatzungszonen auf, deren Grenzen sie bereits im Februar 1945 festlegten.

Zum 1. Juli 1945 gibt es deshalb einen erheblichen Gebietsaustausch. Truppen der USA und Großbritanniens räumen Thüringen und Teile von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg und bekommen von den Sowjets im Gegenzug dafür, wie in Jalta vereinbart, Sektoren im sowjetisch besetzten Berlin.

Auf der Landkarte erscheinen damit erstmals die Grenzen der späteren deutschen Teilung. Schlimm erwischt es Millionen Deutsche aus Schlesien, Hinterpommern, der östlichen Mark Brandenburg und Ostpreußen. Auf Druck Stalins wird dieser Teil Deutschlands bei der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 Polen bzw. der Sowjetunion zugeschlagen, die dortige deutsche Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben. In ihre Häuser ziehen Polen, die wiederum von den Sowjets aus dem vormaligen Ost-Polen vertrieben wurden, das Stalin der Sowjetunion einverleibt.

Fast alle anderen Länder und Gebiete Europas, auf denen im Sommer 1945 sowjetische Soldatenstiefel stehen, machte Stalin durch eine kommunistische Machtübernahme zu  „Bruderländern“, faktisch Satellitenstaaten der Sowjetunion machen – auch den Osten Deutschlands.

Noch während der letzten Kämpfe lässt Stalin dazu die „Gruppe Ulbricht“ einfliegen, ihm treu ergebene deutsche Kommunisten, die nun in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) die zivile Macht übernehmen wollen. „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“, gibt Ulbricht als heimliche Devise aus.

In den neuen zivilen Verwaltungen überlassen Ulbrichts Leute die Abteilungen, die sich um den Wiederaufbau von Schulen, Krankenhäusern und Versorgung kümmern sollen, gerne Politikern der wiedererstandenen SPD oder der neu entstandenen bürgerlichen Parteien CDU und LDPD. Und übernehmen dafür lieber das Innenressort, dem die neue bewaffnete Polizei untersteht.

Dank dieser Waffengewalt und der Schützenhilfe der sowjetischen Besatzer  kann Ulbricht die Maske bald fallen lassen. Mit Gewalt zwingt er die mitgliederstarke SPD im April 1946 zur Vereinigung mit der KPD zur SED, seiner späteren Staatspartei. Politiker von LDPD und CDU landen vielerorts in den sowjetischen „Speziallagern“.

Die Vorsitzenden der Ost-CDU, Ernst Lemmer und Jakob Kaiser, fliehen in den Westen. Potsdams CDU-Bürgermeister Erwin Köhler wehrt sich noch bis 1950 gegen die Machtübernahme der Kommunisten. Dann holt die sowjetische Geheimpolizei ihn und seine Frau ab und verschleppt sie nach Moskau, wo sie erschossen werden.

Mit denselben Methoden übernehmen stalintreue Kommunisten auch in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn die Macht.  Dort haben heute die Denkmälern von Budapest, Prag oder Danzig  für die Opfer der dortigen Aufstände gegen die von den Sowjets aufgezwungene kommunistische Gewaltherrschaft  von 1956, 1968 oder 1980/81 einen weit höheren Stellenwert in der nationalen Gedenkkultur als die Erinnerung an den „Tag der Befreiung” oder „Tag des Sieges“.

Und das, obwohl Polen, Tschechen und Ungarn anders als die „befreiten” Deutschen gar nichts beziehungsweise wenig für Hitlers Verbrechen konnten. Und deshalb tatsächlich von der Sowjetarmee (und ihren eigenen Kämpfern) von der Nazibesatzung befreit wurden. 

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