Von Gerald Praschl (erschienen in SUPERillu 24/2014, hier der Link zum PDF)
Es war ein Erdrutsch-Sieg, den kaum jemand erwartet hat – auch die Sieger nicht, obwohl sie in den Umfragen vorne lagen. Und so ist für den Wahlabend auch keine rauschende Feier vorbereitet, sondern nur eine nüchterne Pressekonferenz.
Am berühmten Kiewer Höhlenkloster drängen sich 600 Journalisten, darunter auch ich, um Petro Poroschenko, 48, der gerade mit rund 54 Prozent aller Stimmen im ersten Wahlgang zum Präsidenten der Ukraine gewählt wurde. Und um Vitali Klitschko, 42, der mit einem ähnlichen Ergebnis der Kiewer Oberbürgermeister wird.
Die komplizierte Lage. Jubelnde Parteianhänger – wie bei Wahlen im Westen – gibt es nicht. Das liegt auch daran, dass Milliardär Poroschenko gar keine Partei hat. Und auch Klitschkos „Udar“-Partei, mit der er sich zusammentat, ist bis jetzt eher eine Firma als eine Partei. Auch auf dem Kiewer Majdan, wo Hunderttausende Ukrainer den Winter über unter Lebensgefahr diese freie Wahl ertrotzten, bleibt die Stimmung nüchtern. Die wenigen Hundert Demonstranten, die dort noch immer ausharren, verfolgen den Wahlabend auf einem Großbildschirm ohne viele Emotionen. Zu sehr drücken die schlimmen Nachrichten aus dem Osten des Landes die Stimmung. Genau in den Minuten, in denen Poroschenko und Klitschko bemüht lächelnd vor den Journalisten ihren Wahlsieg verkünden, greifen in der 700 Kilometer entfernten ostukrainischen Großstadt Donezk prorussische Separatisten den Flughafen der Stadt an und besetzen ihn. Zum ersten Mal haben die Kämpfe eine Millionenstadt erreicht. Regierungstruppen gehen sofort zum Gegenangriff über. In den 24 Stunden danach sterben bei einer blutigen Schlacht rund um den Flughafen, die sich auch in ein Wohngebiet verlagert, Dutzende Menschen, die meisten bewaffnete Separatisten, aber auch unbeteiligte Zivilisten.
Die harte Linie. Poroschenko und Klitschko stehen hinter diesem harten Vorgehen genauso wie die amtierende Übergangsregierung unter Premierminister Arseni Jazenjuk. Mit „Terroristen“ werde nicht verhandelt, ist ihre Linie. Mit allen, die auf Gewalt verzichten, werde man aber reden und nach Lösungen suchen, verspricht Poroschenko zur selben Zeit, als in Donezk gerade die ersten Leichen auf Lastwagen verladen werden. Poroschenko und Klitschko werfen dem russischen Präsidenten Waldimir Putin vor, die Aufständischen nicht nur mit Waffen zu unterstützen, sondern auch Kämpfer über die Grenze zu schicken. Tatsächlich wurden Zahlreiche, der am Flughafen Donezk Getöteten, als russische Staatsbürger identifiziert, die zum Kämpfen in die Ukraine kamen. Auch der mutmaßliche Kommandant der Aufständischen, Igor „Strelkow“ Girkin, ist kein Ukrainer, sondern kam im Februar aus Moskau. Er war nachweislich früher für den russischen Inlandsgeheimdienst FSB tätig.
Das Pulverfass. Die wenigsten der rund sieben Millionen Menschen in den zwei östlichsten Gebieten der Ukraine beteiligen sich an dem Aufstand. Es gibt dort aber auch praktisch keine Aktionen dagegen, zum Beispiel Friedensdemos. Sowohl die neue ukrainische Regierung als auch westliche Experten gehen davon aus, dass es bei vielen Ostukrainern eine heimliche Sympathie für die prorussischen Kämpfer gibt – und eine tiefe Skepsis gegenüber der ukrainischen Regierung. Eine Skepsis, die durch jeden Schuss, jeden Getöteten, den Zorn für einen tatsächlichen Bürgerkrieg entfachen könnte.
Die Hoffnung. Trotz der Gefechte gibt es auch Zeichen der Entspannung. Die erste Überraschung kam direkt nach der Wahl. Putin signalisierte, dass er deren Ergebnis anerkennen werde. Nachdem die Ukrainer kurz vor Ablauf eines entsprechenden Ultimatums zum 1. Juni eine dreiviertel Milliarde US-Dollar Anzahlung für ihre offene Gasrechnung überwiesen, versprachen die Russen auch, dem Land vorerst nicht den Gashahn abzudrehen. Hinter den Kulissen wird, mit Vermittlung der Bundesregierung und der EU, um eine vernünftige Lösung gerungen. Die könnte so aussehen, dass Russland der Ukraine das Erdgas zum selben Preis wie den meisten EU-Ländern verkauft (also im Preis erheblich runtergeht). Und die EU, allen voran die Bundesrepublik, gegenüber Putin die Bezahlung garantiert. Eine Bedingung sowohl der Ukrainer als auch des Westens ist, dass Putin nicht nur jegliche Unterstützung für die Separatisten einstellt, sondern auch aktiv etwas dagegen tut, dass „freiwillige“ Kämpfer von Russland aus in die Ukraine einsickern.
Die Rätsel um Putins Psyche. Glaubt man der Hetz-Propaganda, die derzeit fast alle russischen Medien füllt, spricht eigentlich wenig dafür, dass sich Putin darauf einlässt. Die Separatisten in der Ostukraine werden dort als Freiheitskämpfer dargestellt, die Mitglieder der ukrainischen Regierung nach wie vor als „Faschisten“ (auch wenn die marginalen Wahlergebnisse für Rechtsradikale längst das Gegenteil bewiesen). Die Ukraine sei Teil von Russland, die Eigenstaatlichkeit des Landes nur „eine Erfindung des Westens“, der ohnehin bald an seinem „liberalen“ Geist zugrunde gehe. Europa solle dann am konservativen Geist Russlands genesen. Das gefällt auch vielen Rechtsradikalen in Westeuropa, weshalb Putin dort zahlreiche Sympathisanten hat.
Doch auf der anderen Seite scheint Putin auch zu registrieren, dass sein Land schon jetzt unter der Konfrontation mit dem Westen stark leidet. Rubelkurs und Börsenkurse stürzten ab, Russlands Kreditwürdigkeit sank auf kurz vor Ramsch-niveau und viele reiche Russen schaffen massiv Geld ins Ausland. Nach der Euphorie vieler Russen für seinen „Erfolg“ könnten die wirtschaftlichen Folgen Putins Macht gefährden. Trotz allem sei Putin ein „rational denkender Menschen“, analysiert dazu Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums (s. rechts).
Der Herkules-Job. Selbst wenn Putin einlenkt und ein Bürgerkrieg abgewendet wird: Auf Poroschenko und Klitschko warten enorme „Mühen der Ebene“, wie Platzeck formuliert. Die Industrie des Landes ist ähnlich wie die der DDR 1990 nicht wettbewerbsfähig. Nur aus eigener Kraft und mit Hilfe des Westens, sagt auch Poroschenko, sei das nicht zu lösen. Man werde auch mit Russland reden müssen …