Ist die neue, aus der Kiewer Februar-Revolution entstandene Regierung der Ukraine ein Hort von „Faschisten“ und „Antisemiten“? Wie ist das mit der „Swoboda“- Partei in dieser Regierung? Nicht nur in den Nachrichtensendungen des russischen Fernsehens und von offiziellen Vertretern der russischen Regierung wird das behauptet. Auch in vielen deutschen TV-Talkshows und auch im deutschen Bundestag ist das ein Thema.
Was sagt einer, der es wissen muss? Josef Zissels, 67, ist einer der führenden Funktionäre der Juden in der Ukraine.
Josef Zissels, Йосиф Самойлович Зисельс (http://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%97%D0%B8%D1%81%D0%B5%D0%BB%D1%8C%D1%81,_%D0%99%D0%BE%D1%81%D0%B8%D1%84_%D0%A1%D0%B0%D0%BC%D0%BE%D0%B9%D0%BB%D0%BE%D0%B2%D0%B8%D1%87) stammt aus dem heutigen Moldawien, die gesamte Familie seines Vaters Samuel starb dort während der deutschen Besatzung im jüdischen Ghetto, ermordet von den nazideutschen Besatzern. Er wuchs im damals sowjetischen Tschernowitz (Ukraine) auf, studierte dort Physik und leistete seinen Wehrdienst bei der sowjetischen Schwarzmeerflotte. Seit Anfang der 70er Jahre war er oppositionell aktiv, wurde zur Sowjetzeit mehrmals inhaftiert, unter anderem wegen „Verleumdung des Sowjetstaates“, zuletzt drei Jahre, bis 1987 in einem Straflager „verschärften Regimes“. Seit 1991 ist er, bis heute, Vorsitzender der Jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine VAAD (Ассоциации еврейских организаций и общин) und heute auch Mitglied des Jüdischen Weltkongresses.
Wie ist das mit der „Swoboda“, die in der neuen Regierung drei Mitglieder stellt? Ja, sagt Zissels, dass sei ein Problem, aber derzeit sicher nicht das größte in der Ukraine. „Swoboda ist eine nationalistische, populistische Partei, die radikale Demagogie betreibt. Aber keine in erster Linie antisemitische Partei, auch wenn Antisemiten in ihren Reihen sind.“ Man beobachte sehr genau, was heutige Swoboda-Politiker in den letzten 20 Jahren geäußert hätten. Antisemitismus sei in der Parteibasis sehr verbreitet. Auch den Parteivorsitzenden Oleh Tyahnybok halte er für einen Antisemiten, auch wenn sich dieser in den letzten zehn Jahren in der Öffentlichkeit nicht antisemitisch geäußert habe. „Keiner der Swoboda-Abgeordneten hat in Parlamenten in den letzten 10 Jahren je ein antisemitisches Wort fallen lassen“. Und weiter: „Es gibt drei von 37 derzeitigen Swoboda-Abgeordneten, die auf ihren Webseiten antijüdische Polemik benutzt haben, aber keiner von diesen ist in der Regierung.“
In der Ukraine müsse man zwischen „rechtsradikal“ und „antisemitisch“ trennen. Zissels: „Die hauptsächlichen Vorbehalte von Swoboda-Wähler richten sich nicht gegen Juden, sondern gegen die russische Macht.“ Auch der im Februar gestürzte Präsident Wiktor Janukowitsch habe sich in der Bevölkerung verbreiteter antisemitischer Stereotypen bedient. „ Viele Webseiten seiner Unterstützer im Präsidentenwahlkampf 2010 waren voller antisemitischer Äußerungen bis zu der Behauptung, die Demokratiebewegung auf dem Majdan 2004 wäre von Juden organisiert worden“, so Zissels. Die Swoboda-Partei sei auch von Janukowitsch nahestehenden Oligarchen unterstützt worden. Den im Westen – und in Russland – vielzitierten „Rechten Sektor“ sieht Zissels als „vor drei Monaten noch gar nicht existent“ und aus „Abspaltungen marginaler rechtsradikaler Gruppen“ bestehend. Er fordere von der neuen Regierung aber Aufklärung darüber, wer diesen „Rechten Sektor“ finanziere.
Vehement widerspricht Zissels der Darstellung, die neue ukrainische Regierung sei antisemitisch oder faschistisch. Die russische Führung unter Putin, so Zissels, missbrauche dieses Zerrbild als Legitimation für ihren Einmarsch in die Ukraine. Putin missbrauche, so sein Vorwurf, damit auch die Juden für seine Zwecke, dagegen verwehre er sich.
Viele Juden in der Ukraine hätten die Majdan-Bewegung unterstützt. Drei der etwa hundert Todesopfer der Revolution seien Juden, viele jüdische Vertreter hätten auch auf der Bühne auf dem Majdan gesprochen. Umgekehrt sei, nicht in Kiew, aber in Lemberg, einem Swoboda-Vertreter der Zugang zur dortigen „Majdan“-Bühne verwehrt worden. Das Wählerpotential der „Swoboda“ werde, so Zissels, allgemein überschätzt. Bei der letzten Wahl, 2012, hätte die „Swoboda“ statt vorher unter zwei Prozent vor allem auch deswegen knapp über 10 Prozent bekommen, weil sich ihre Führer seit Jahren jeder antisemitischen Äußerung enthielten und damit für weitere Kreise wählbar geworden seien.
Er selbst, stellte Zissels klar, verbinde mit der Februarrevolution in Kiew und der Majdan-Bewegung die große Hoffnung, dass sein Land den Aufbruch nach Europa schaffe. Viele Ukrainer seien bereit, ihr Leben dafür zu riskieren, dass „alles Gute von Europa in die Ukraine importiert wird“. Wenn Putin das akzeptiert, werden wir kein Problem mit ihm haben. Ich glaube nur nicht, dass er das akzeptiert.“
Die Ukraine, einst Wohnort von Millionen Juden, wurde im 20. Jahrhundert zu einem Haupt-Schauplatz des von Nazi-Deutschland initiierten Holocaust, am Rande hunderter Städte und Gemeinde sind bis heute Massengräber von dort von deutschen Sonderkommandos ermordeten Juden, mindestens 700 000 Menschen. Auch zur Sowjetzeit wurden Juden zeitweise verfolgt und deportiert. Nach dem Ende der Sowjetunion wanderten viele ukrainische Juden nach Israel, in die USA und Deutschland aus.
Zur Zahl der heute noch dort lebenden Juden sagt Zissels: „Es gibt in der Ukraine ungefähr 80 000 Menschen, die nach den alten sowjetischen Zensus-Kriterien, also Vater und Mutter Jude, als Juden gelten, gemäß dem letzten Zensus vor 11 Jahren. Nach halachischen Kriterien, also Mutter Jüdin, oder ins Judentum Eingetretene, sind es etwa 150 000 bis 160 000. Und nach den Kriterien der jüdischen Einwanderung in Israel oder Deutschland, also Menschen mit jüdischen Vorfahren, dürften es etwa 300 000 Personen sein. Die Auswanderungsbereitschaft nimmt aber ab, pro Jahr sind das etwa 2000 Menschen. Gleichzeitig gibt es auch viele Juden, die aus Israel zurückkehren, die Statistik ist derzeit fast ausgeglichen. Es gibt also keine jüdische Fluchtwelle aus der Ukraine. Ich selbst lebe in der Ukraine, weil es meine Heimat ist. Ich bin dort schon mein ganzes Leben, es ist das Land, in dem meine Eltern gestorben und begraben sind. Das Land, in dem ich zur Sowjetzeit Dissident war. Ich glaube nicht, dass ich mich in einem anderen Land besser frei entfalten könnte.“
Der Autor traf Josef Zissels im Rahmen dessen Besuches in Berlin am 20. März 2014 bei Vertretern des deutschen Judentums und Journalisten auf Einladung der Berliner jüdischen „Initiative Shalom“.