Schicksalsmoment 1989: Wie die Montagsdemos ins West-Fernsehen kamen

Ihre Namen stehen (bis jetzt) nicht im Geschichtsbuch. Aber ohne sie hätte es die Wende in der DDR 1989 vielleicht nicht gegeben. Wie die Montagsdemos 1989 ins West-Fernsehen kamen. Und die atemberaubende Geschichte dahinter: Die Story von Siegbert Schefke (links)  und seinem Mitstreiter Aram Radomski (rechts).

Ganz Deutschland starrt gebannt auf die Bilder, die die ARD-Tagesthemen am 10.Oktober 1989 ausstrahlen: 70 000 Demonstranten auf dem Marsch durch Leipzig, und ihr Sprechchor, der die Stadt erbeben lässt: „Wir sind das Volk“. Aufnahmen von der Leipziger Montagsdemo einen Tag zuvor. Erstmals können Millionen DDR-Bürger via West-Fernsehen sehen, was ihnen die SED Führung verheimlicht: dass der Widerstand gegen die Diktatur zu einer Massenbewegung geworden ist. Ermuntert dadurch gehen nun Menschen im ganzen Land auf die Straße – das Signal zum Sturz des SED-Regimes.

Die Bilder stammen von zwei jungen DDR-Bürgern: Aram Radomski und Siegbert Schefke aus Ost-Berlin.

Siegbert Schefke, geboren 1959 in Eberswalde, hat eigentlich keine sehr typische »Widerstandsbiographie«. Nach einer Lehre zum Baufacharbeiter mit Abitur absolviert er anders als die meisten, die später zu »Bürgerrechtlern« werden, seinen regulären Grundwehrdienst, bekommt die Zulassung zu einem Studium an der Hochschule für Bauwesen in Cottbus. Nach dem Studienabschluss ist er ab 1985 als Bauleiter beim Wohnungsbaukombinat Berlin tätig, das damals im Osten der Hauptstadt große Neubaugebiete errichtet.

SAT1 Filmpremiere "Wir sind das Volk" im Kino Kosmos Siegbert Schefke (links) und Aram Radomski Berlin 24.09.2008 Foto: Nikola Text: Praschl
SAT1 Filmpremiere „Wir sind das Volk“ im
Kino Kosmos
Siegbert Schefke (links) und Aram Radomski
Berlin
24.09.2008
Foto: Nikola
Text: Praschl

Er führt dort ein Doppelleben. Von 9 bis 15 Uhr wirkt er beim „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“. Die Mittagspausen, die er zu Telefonaten mit dem nach West-Berlin ausgebürgerten Bürgerrechtler Roland Jahn nutzt, werden mit der Zeit immer ausgedehnter. Nach Feierabend engagiert er sich für die Ost-Berliner Umweltbibliothek, die seit 1986 zum Treffpunkt und zur Schaltzentrale der DDR-Opposition wird.

Lange geht das nicht gut. Bereits seit 1985 hat er Reiseverbot, darf, wie die meisten Oppositionellen, die DDR nicht mehr verlassen. Das Regime will damit vor allem Kontakte von DDR-Bürgerrechtlern mit der polnischen Solidarnosc und der tschechischen Oppositionsbewegung Charta 77 erschweren. Im Januar 1987 stellt ihn sein Chef beim Wohnungsbaukombinat wieder einmal zur Rede, nachdem Schefke als Teilnehmer einer Oppositionsveranstaltung in Pankow aufgefallen war. Der letzte Auslöser für Schefke, seinen Job, den er schon lange für Zeitverschwendung hält, zu kündigen. So wird er zum »Vollzeit-Revolutionär«. Ist Mitorganisator oppositioneller Konzerte in der Zionskirche. Im Keller der Umweltbibliothek entstehen illegale Untergrundzeitungen wie der »Grenzfall«  oder der »Moaning Star« und die legalen, als »kirchenintern« deklarierten »Umweltblätter«. In einem Land, in dem sämtliche Medien vom Regime kontrolliert und zensiert werden, sind diese kleinauflagigen Postillen zwar kein Leuchtturm der Pressefreiheit, aber doch immerhin eine Kerze im Sturm.

Über die West-Medien wollen Schefke und seine Mitstreiter mehr Menschen in der DDR erreichen, als das mit diesen Samisdaten möglich ist. Zunächst mit selbstgemachten Radio-Sendungen, die sie umständlich in Ost-Berlin produzieren, auf Kassette in den Westen schmuggeln und dort jeden letzten Montag im Monat als Sendung »Radio Glasnost« auf einem West-Berliner Privatsender ausstrahlen – empfangbar auch im Osten. Noch weit mehr DDR-Publikum erreichen Filme, die Schefke und Radomski mit Hilfe von aus dem Westen eingeschmuggelten Video-Kameras drehen und die via West-Fernsehen in der DDR ein Millionenpublikum erreichen. Die illegalen Drehs sind riskant, die Themen brisant: die Umweltzerstörung im Braunkohlerevier von Espenhain, der Verfall der ostdeutschen Innenstädte wie in Halberstadt. Für den Fall ihrer Verhaftung haben sie im sicheren Westen vorbereitete »Bekenner-Videos« hinterlegt. Doch die kommen nie zum Einsatz. Die Stasi überwacht die Untergrund-Journalisten zwar mit Spitzeln, Sabotage und offener Beschattung, verhaftet sie aber nicht. Ob aus Furcht vor Protestaktionen des Westens, von dem die DDR zunehmend finanziell abhängig ist. Oder schlicht, weil die Stasi-Offiziere, die den »Operativen Vorgang Satan« gegen Schefke und seine Mitstreiter führen, die Wirkung der Revolutionäre mit der Fernsehkamera unterschätzen. Am Tag nach der Montagsdemo von Leipzig, als Schefkes TV-Aufnahmen zum Zündfunken der Revolution werden, sind sie eines besseren belehrt.

 

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