Ende 2015 traf ich in Prag den langjährigen tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg, der damals gerade angekündigt hatte, aus Altersgründen sein Amt als Vorsitzender der Partei TOP9 abzugeben. Hier das in SUPERillu Heft 2/2016 erschienene Interview mit ihm zur EU-Krise. Foto: Nikola Kuzmanic, SUPERillu. Eine Begegnung mit einem für mich besonderen – in unserem Gespräch aus Respekt vor ihm unausgesprochenen Schauer. Meine väterlichen Vorfahren, seit mindestens dem 16. Jahrhundert als Kleinbauern und arme Holzarbeiter im Westen Böhmens lebend, waren einst Leibeigene der Fürsten Schwarzenberg, deren heutiges Familien-Oberhaupt Fürst Karl Johannes Nepomuk Josef Norbert Friedrich Antonius Wratislaw Mena von Schwarzenberg ist, der 1989/90 aus Wien in seine alte Heimat zurückkehrte, wo er schon viele Jahre zuvor den Prager Bürgerrechtlern mit oft klandestinen Mitteln half, sich der kommunistischen Diktatur zu erwehren. Ich bin mir aber sicher, dass auch er sehr froh ist, dass beiderlei finstere Zeiten, die der Leibeigenschaft und die der kommunistischen Diktatur schon lange vorbei sind. Wir sprachen über das neue Europa, das mindestens genauso große Herausforderungen birgt.
Als Politiker warb er dafür, dass 2004 zehn einst sozialistische Länder, darunter sein eigenes, Tschechien, schnell in die EU eintreten konnten. Fünf Jahre lang war Karel Schwarzenberg später Außenminister von Tschechien – bis 2013. Bei allen Schwierigkeiten galt er dabei stets als „EU-Optimist“, ganz anders als der heutige, als sehr EUskeptisch bekannte tschechische Präsident Miloš Zeman, 71, dem Schwarzenberg bei der Präsidentenwahl 2013 knapp unterlag. Auch in Tschechien ist die EU ein kontrovers diskutiertes Reizthema. Dazu sprachen wir mit Schwarzenberg in Prag.
Bei den Menschen in den östlichen EU Ländern wie Tschechien und Polen, aber auch im Osten Deutschlands scheint die Skepsis gegenüber der EU besonders groß…
Schwarzenberg: Ich denke, die Skepsis ist bei uns in Tschechien auch nicht größer als in einem bayerischen oder französischen Wirtshaus. Die brennende Liebe zu Europa ist überall nicht sehr ausgeprägt. Aber man muss zur EU ja auch kein erotisches Verhältnis entwickeln. Es reicht, sie als Zweckehe zu akzeptieren.
Zerbricht die EU? Oder hält sie das aus?
Die EU wird das aushalten, wenn wir vernünftig bleiben. Es scheint ja so zu sein, dass die Menschen vernünftig sind, wie man jetzt auch bei der Regionalwahl in Frankreich sah die bewiesen hat, dass die Wähler, auc wenn sie ihrem Protest und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck gegeben haben, vernünftig regiert werden wollen. Die diversen demagogischen und populistischen Parteien, die in Europa einen Zulauf erleben, sind in der Tat ein Problem, weil sie den alten Chauvinismus aufgreifen, der Europa im 20. Jahrhundert in die Katastrophe führte. Ich denke aber, dass das wieder abflaut. Schon Marx schrieb, dass sich jede geschichtliche Tragödie als Posse wiederholt. So wie wir jetzt einige Wiederholungen der europä ischen Tragödien der 30er-Jahre erleben, jedoch nur als Posse. Wichtig ist aber, dass die Demokraten in der Auseinandersetzung mit diesen rechtspopulistischen Bewegungen zusammenrücken – auch über die europäischen Binnengrenzen hinweg, zwischen unseren Ländern. Das passiert auch, und das ist positiv.
Brauchen wir zur Lösung mehr EU? Oder weniger?
Wir müssen uns vor allem einig werden, für was die EU gut sein soll – welche Kompetenzen wir nach Brüssel abgeben wollen und welche nicht. Es hat doch bisher einen sehr zufälligen Charakter, in was sich die EU mit Regelungen einmischt und in was nicht. Wir brauchen eine überlegte Umgestaltung der EU statt der bisherigen Ad-hoc-Gesetzgebung. Wir müssen klar gliedern, was wir föderal lösen müssen und was wir weiter national oder auch regional lösen können. Die EU mischt sich oft in Dinge ein, die viel besser regional gelöst werden können. Da wird einem Bauern von Brüssel aus vorgeschrieben, wie er sein Land zu bewirtschaften habe. Oder unter welchem Handelsnamen er die Konfitüre aus seinem Garten verkaufen darf. Das treibt die Menschen natürlich auf die Barrikaden. Und andererseits gestaltet die EU genau das nicht, was eigentlich am wichtigsten wäre: nämlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür bräuchten wir eine starke Zentrale – und nicht, um uns noch mehr Vorschriften von oben in der Wirtschafts- oder Innenpolitik machen zu lassen. Europa wird zugrunde gehen, wenn es die notwendigen Reformen nicht durchführt.
Zum Umgang mit den vielen Flüchtlingengibt es große Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und den östlichen EU-Ländern. Auch mit Tschechien, das bisher praktisch überhaupt keine Flüchtlinge nimmt …
Da ist etwas sehr Ungeschicktes passiert, an dem die deutsche Regierung mit Schuld trägt. Als die Flüchtlingswelle einsetzte, die durch das Agieren der Bundeskanzlerin Angela Merkel bekanntlich noch beschleunigt wurde, war sofort die Forderung da, jedes Land müsse eine bestimmte Quote der Flüchtlinge aufnehmen. Das war ein schwerer Fehler. Sie können doch nicht jemandem vorschreiben, wie viele Menschen er zu nehmen habe.
Wie soll es eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU geben, wenn die einzelnen Regierungen so unterschiedlicher Meinung in Schlüsselfragen sind – wie zum Syrien-Krieg, zu den Flüchtlingen oder zur Russland-Krise?
In jeder Demokratie gibt es verschiedene Meinungen. Am Ende sollten Mehrheiten zählen. Europa wäre besser beraten gewesen, es so zu machen wie einst bei der Entstehung der USA, wo jeder Staat, ob groß oder klein, zwei Sitze im Senat bekam. Das war für den Erfolg dieser Vereinigten Staaten sehr entscheidend. Es kann nicht sein, dass die großen Staaten wie Deutschland faktisch allein für alle entscheiden.
Was hat uns denn die Europäische Union bisher gebracht?
Die EU hat uns sehr viel gebracht. Wobei wir in Tschechien länger darauf warten mussten als die Menschen im Osten Deutschlands. Die EU hat uns geholfen, unser Land zu verändern und zu modernisieren, die Öffnung der Handelswege hat unserer Wirtschaft genützt. Erinnern wir uns, wie grau unsere Städte vor 25 Jahren waren, ob Leipzig, Dresden oder Prag. Und wie schön sie heute geworden sind. Der Zuwachs an Wohlstand ist aber nicht das Wichtigste. Das Wesentliche ist, dass uns der Weg in die EU auch bei unserem Streben nach mehr Demokratie und Rechtsstaat geholfen hat.