Anfang 2016 interviewte ich gemeinsam mit meinem deutsch-polnischen Kollegen Andrzej Stach den polnischen Friedensnobelpreisträger Lech Walesa in seinem Büro in Danzig. Das Interview erschien in SUPERillu Heft 7/2016 erschien. (Foto: Nikola Kuzmanic, SUPERilllu).
Seit 2015 die konservative PiS-Partei in Polen Parlaments- und Präsidentenwahl gewann, hat sich das deutsch-polnische
Verhältnis verdüstert. Es geht zum einen um weltanschauliche
Differenzen. Die (West-)EU ist Polens neuem starkem Mann, dem Chef der Regierungspartei PiS, Jaroslaw Kaczynski, 66, nicht konservativ genug. Aber es geht auch ums Geld: Nicht nur bei Polens Konservativen sind, wie in allen östlichen EU-Ländern, die EU-Finanzhilfen für Griechenland besonders umstritten. Und noch mehr die Aufnahme von Flüchtlingen, der sich Polen zulasten Deutschlands bisher weitgehend verweigert. Für Irritationen sorgte auch, wie Kaczynski versucht, Kritiker im eigenen Lande loszuwerden. Er ließ TV-Journalisten feuern, will das polnische Verfassungsgericht auf Parteilinie bringen. Angriffe auf Pressefreiheit und Gewaltenteilung, zwei Grundfesten der Demokratie, die sich die Polen 1989 in der Revolution der Solidarnosc erkämpften. Lech Walesa, 72, und Jaroslaw Kaczynski (und dessen 2010 tödlich verunglückter Zwillingsbruder Lech Kaczynski) waren einst Weggefährten in dieser Revolution, die auch den Mauerfall in Berlin beförderte. SUPERillu traf den polnischen Nationalhelden und ehemaligen Präsidenten in Danzig
zum Interview.Herr Walesa, in Deutschland machen sich viele Sorgen um
die polnische Demokratie. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?
Lech Walesa: Der Wahlsieg der PiS in Polen ist vor allem ein Wahlunfall. Über die Hälfte der Polen ist überhaupt nicht zur Wahl gegangen. Dieses Desinteresse liegt auch am Versagen der Politiker, und da schließe ich mich ein. Die Menschen, die nicht zur Wahl gehen, sind ja nicht gegen Demokratie. Sondern viele nehmen es einfach auf eine zu leichte Schulter. Sie verlassen sich darauf, dass es schon irgendwie laufen wird, auch ohne dass sie sich einbringen. Aber so ist es eben nicht. Ich bin viel in der Welt unterwegs und weiß, dass die Demokratie in vielen westlichen Ländern eine Krise erlebt. Es macht mir natürlich Sorgen, dass dort solche Dämonen geweckt werden. Ein Kritikpunkt vieler Protestwähler ist, dass Politiker zu selbstherrlich regieren und zu lange an der Macht
sind. Hier brauchen wir dringend mehr Transparenz, um wieder
mehr Vertrauen zu schaffen, sonst wählen die Menschen überall in Europa aus Protest eben Populisten wie in Frankreich Marine Le Pens Front National oder bei uns in Polen jetzt Jaroslaw Kaczynskis PiS-Partei. Wir müssen die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Aber wenn man es sich näher anschaut, dann ist es so schlimm auch wieder nicht. So eine kalte Dusche kann Polen auch ganz guttun.
Die polnische Regierung hat Fernsehjournalisten gefeuert, will treue Parteisoldaten als Verfassungsrichter einsetzen. Ist das nicht gefährlich für die Demokratie?
Ich habe ein gewisses Verständnis dafur. Als ich vor 25 Jahren
Präsident wurde, hätte ich mir auch mehr Handlungsspielraum
gewünscht. In einer Demokratie laufen manche Prozesse ja oft
quälend langsam – oder gar nicht –, und naturlich wunscht sich jeder Politiker mehr Macht, um seine Ziele durchzusetzen. Das ist ja menschlich verständlich. Wir müssen genau beobachten, wie der neue Präsident Andrzej Duda, die Ministerpräsidentin
Beata Szydlo und PiS-Parteichef Kaczynski diese Macht nutzen, ob sie dem Land nutzen oder schaden. Und dann entsprechend reagieren. Lassen Sie uns erst einmal abwarten. Unabhängig davon durchlebt die Demokratie tatsächlich eine Krise. Wir müssen neu diskutieren, was heute links ist und was rechts. Wir müssen aber auch die Fundamente Europas zur Diskussion stellen. Früher hatte unser Land, hatte ganz Europa christliche Fundamente, später kam unter anderem die kommunistische Ideologie, aber auch der Laizismus. Aber heute ist doch nichts. Wir müssen diskutieren,
welche Fundamente Europa braucht.
Lieben die Polen die EU noch?
Ja. Aber die Vorbehalte haben zugenommen. Auch daran haben Politiker Mitschuld, weil sie zu wenig von dem reden, was die EU uns bringt. Die Verteidiger der EU sind zu wenig aktiv. Deswegen wurden jetzt so viele Dämonen wach, die sie infrage
stellen. Ich hoffe, dass da die Klugheit siegt. Wir müssen von Nationalstaaten zu einem europäischen Staat übergehen. Es
gibt nämlich viele Themen, die ein einzelner Staat nicht mehr
lösen kann. Die Informationsgesellschaft, das Bankensystem
und vieles mehr. Zu deren Regelung brauchen wir einen europäischen Staat. Alles andere, was nicht zentral geregelt werden
muss, können natürlich weiter die Einzelstaaten machen. Selbst wenn jemand die EU morgen zerstören sollte, würden
am nächsten Tag zwei, drei oder mehr klug regierte Staaten,
darunter sicherlich auch Deutschland, eine neue Union
gründen. Wer umgekehrt nicht mehr zur EU gehören will, den
zwingt dazu keiner. Die aber, die verstanden haben, dass wir eine
Europäische Union brauchen, sollen diese umso konsequenter
ausgestalten.
Die Flüchtlingsfrage ist eine der aktuellen Streitigkeiten in der EU. Deutschland nimmt ganz viele Flüchtlinge. Viele EU-Länder, darunter Polen, fast gar keine …
Wir sind auch schlechter aufgestellt als Deutschland. Wir verdienen schlechter, wir haben schlechtere Wohnungen, weniger Möglichkeiten, um zu teilen. Wenn wir im Vergleich zu uns die Flüchtlinge anschauen, dann sehen die oft besser aus als ein polnischer Durchschnittsbürger. Damit Sie mich nicht falsch
verstehen: Ich persönlich bin dafür, dass Polen Flüchtlinge aufnimmt. Wir müssen solidarisch mit Deutschland sein. Aber wir müssen es klug machen. Dazu gehört auch, wieder Frieden
in den Ländern zu schaffen, aus denen die Flüchtlinge kommen. Statt hier Geld für sie auszugeben, sollten wir lieber mit diesem Geld helfen, ihre Länder wieder aufzubauen und den Frieden dort wiederherzustellen.
Die meisten Flüchtlinge, die jetzt kommen, sind keine Christen, sondern Muslime. Ist das der Grund, wieso die Vorbehalte größer sind?
Unser Gott ist überall der gleiche. Dieser Gott hat uns Menschen
die ganze Welt gegeben. Es gibt nur eine, für alle. Deswegen müssen wir auch mit Migration rechnen und die Welt mit den anderen Menschen teilen. Aber wir dürfen dabei auch nichts
überstürzen. Es ist doch klar, dass, wenn wir einfach die Grenze aufmachen, Millionen Flüchtlinge kommen. Und die eigentliche Globalisierung und deren Folgen stehen uns dabei ohnehin noch bevor. Deswegen sollten wir behutsam vorgehen. So, wie wir es behutsam geschafft haben, in vielen Jahrzehnten die Grenzen in Europa zu beseitigen, sollten wir auch daran arbeiten, diese gewachsenen Grenzen zwischen Kulturen und Religionen abzubauen. Unsere Generation hat doch bereits viel erreicht, auf das wir stolz sein können. Für meinen Vater, der im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam, wäre es unvorstellbar gewesen, dass es zwischen Deutschland und Polen eine offene Grenze gibt, ohne Militär, ohne Kontrolle.
Ist die deutsche Kanzlerin Angela Merkel noch eine gute Führungsfigur in Europa, oder sollte sie besser gehen?
Sie macht vieles richtig. Und hat die viele Prügel, die sie
jetzt bekommt, nicht verdient. Aber es ist ihr auch nicht gelungen,
die anderen davon zu überzeugen, und das ist natürlich ein Versagen. Es nützt ja nichts, wenn man recht hat, aber die anderen nicht davon überzeugen kann. Die Deutschen haben die größten Möglichkeiten, und sie sollten auch noch mehr Verantwortung
übernehmen. Angela Merkel sollte aber auch nicht versuchen,
alle EU-Probleme im Alleingang zu lösen, sondern die anderen EU-Länder in die Entscheidungen einbeziehen. Das hat gefehlt. Und deswegen hat sie jetzt ein Problem.
Eine ziemlich harte Grenze in Europa ist geblieben: die Grenze zu Russland, die nur 50 Kilometer vor Ihrer Heimatstadt Danzig verläuft. Und die immer mehr zu einer Konfliktlinie wird. Wie wollen wir mit Russland heute umgehen?
Russland ist mental von Europa mindestens 30 Jahre abgehängt.
Dort war nie Demokratie. Sie brauchen offenbar immer einen Feind, um im Inneren zusammenzuhalten. Und neigen dazu, Probleme mit
Gewalt zu lösen. Aber langsam verändert sich auch Russland, auch wenn es dabei schlechte und gute Entwicklungen gleichzeitig gibt. Wir müssen Russland in diesen schlechten Entwicklungen in die Schranken weisen, aber in den guten auch unterstützen. Es kann auch niemand ein Interesse haben, Russland zu destabilisieren, schon wegen seines gewaltigen Waffenpotenzials, das unsere Sicherheit gefährden würde. Wir müssen Wege erarbeiten, wie man Putin wieder auf den richtigen Weg zurückbringen kann, organisiert und klug. Dazu sollte jedes einzelne Land der EU beitragen– trotz seiner Einzelinteressen. Unter den Experten, die das ausarbeiten, sollten auch Menschen sein, die sich mit Putin verstehen, die mit ihm in engem Kontakt sind. Die auch auf ihn einwirken können, um ihm begreiflich zu machen, dass
seine aktuelle Politik Russland schadet, ihm nur Verluste zufügt. Wir dürfen Russland nicht nur mit dem Säbel drohen. Wir müssen mutig, aber klug überzeugen.
Russische Truppen sind auf der Krim einmarschiert und
agieren in der Ostukraine. Glauben Sie wirklich, dass man da etwas mit „verständnisvollen Gesprächen“ mit Putin lösen kann?
Ich habe große Sympathie für die Entwicklung in der Ukraine. Schon mein Großvater sagte: Es gibt kein freies Polen ohne eine freie Ukraine. Ich glaube das auch. Aber der Einfluss der EU auf Russland ist an dieser Stelle begrenzt, weil wir uns nicht einig sind. Solange müssen wir auch abwarten und bescheiden sein – damit wir
nicht noch größeres Unheil anstiften. Meine Kritik richtet
sich dabei nicht nur an Russland, sondern auch an die ukrainische Seite. Uns haben damals die Kommunisten auch nicht gefallen. Aber wir haben trotzdem am Runden Tisch 1989 einen friedlichen Übergang ausgehandelt. Man kann in der Politik nicht nur auf radikale Schritte setzen, selbst wenn man recht hat. Es gibt keine einfachen Lösungen. Das sollte übrigens auch jeder wissen, der in der aktuellen Krise Demagogen hinterherläuft.