Von Gerald Praschl
Klitschko. Auf Ukrainisch bedeutet dieser Name „Der Rufer“. Die Vorfahren der Klitschkos sind Kosaken und Juden aus der Ukraine, bettelarme Kleinbauern. Wladimir, 37, und Vitali, 42, Klitschko führen ein ganz anderes Leben. Ihr Erfolg beim Boxen hat sie berühmt und reich gemacht. Ihre Namen kennt die ganze Welt. Gerade macht Wladimir durch seine Verlobung mit dem US-Film-Star Hayden Panettiere, 24, Schlagzeilen. Der Zweimeter-Hüne und die 1,53 kleine Hollywood-Schauspielerin sind derzeit eines der bekanntesten Glamour-Pärchen. Kürzlich gaben sie ihre Velobung bekannt, in US-Talkshows erzählt Hayden von den Hochzeitsvorbereitungen.
Das Leben im Olymp. Als Wladimir Anfang Oktober in der Olympischen Halle von Moskau gegen den russischen Boxer Alexander Powetkin antritt, sitzt Hayden mit am Ring. Der Kampf wird in über 100 Länder live übertragen, alleine in Deutschland schauen 12 Millionen zu, jeder siebte Deutsche. Sie verfolgen, wie Klitschko, der ukrainische „Doktor Stahlhammer“, seinen deutlich unterlegenen russischen Gegner vor sich durch den Ring scheucht. Wladimir, Träger von vier der fünf gängigen globalen Box-Champion-Titel im Schwergewicht, bleibt bis auf Weiteres der beste Boxer der Welt. Der fünfte Titel, den der in Mexiko residierende World Boxing Council WBC vergibt, ist bisher für ihn tabu – den hält sein Bruder Vitali, und die beiden haben ihrer Mutter Nadeshda bekanntlich versprochen, nie gegeneinander zu boxen. Vitalis letzter Kampf ist schon ein Jahr her, ebenfalls in der Moskauer Olympiahalle. Sein Gegner, Manuel Charr, der nach heftigen Treffern so stark blutete, dass der Ringrichter damals schon in der vierten Runde auf technisches K.O. entschied.
Der Kampf für ein Land. Doch bald ist auch Vitalis WBC-Titel für Wladmir erreichbar, denn es könnte sein, dass sein älterer Bruder ihn kampflos abgibt. Er kämpft nun einen wichtigeren Kampf. Mit ungewisser Dauer. Und ungewissem Ausgang. Es ist ein Kampf um das Land, das er so liebt. Seine Ukraine. Am Sonntag, dem 8. Dezember 2013 steht er im eisigen Wind auf dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt Kiew, dem „Majdan“ und spricht vor hunderttausenden Menschen. Der Präsident sei ein „Diktator“. Die Regierung begehe „Hochverrat“. Sie müssten allesamt weg. Und den Weg freimachen, für eine neue, der Zukunft zugewandte Ukraine. Eine die nicht von korrupten Kleptokraten regiert wird. In der es endlich mit der Wirtschaft aufwärts geht, der die jungen Menschen nicht scharenweise davonlaufen. Er droht mit einem Generalstreik. Fordert eine Neuwahl. Und er hat eine klare Vorstellung, wie diese ausgehen soll: Er selbst will Präsident werden und sein Land zu einem Teil der EU und des „Westens“ machen.
Er könnte jetzt stattdessen mit seiner wunderschönen Natalia, 39, mit der er drei Kinder hat, Yegor, Elisabeth und Max, irgendwo in einer Villa in Süd-Frankreich oder in der Karibik unter Palmen sitzen und Cham-pagner trinken. Das Leben genießen wie viele andere neureiche Ukrainer oder Russen es tun, die sich weit weniger für ihren Reichtum anstrengen mussten, als er das getan hat, mit seinen Fäusten und im Schweiße
seines Angesichts.
Warum tut er sich das an? In einem ukrainischen Dorf, Wilschany, 170 Kilometer südöstlich von Kiew und in einer Akte der sowjetischen Geheimpolizei NKWD (Vorläufer des KGB), die ein Buchautor in Kiew jetzt fand, liegt die Antwort. Wilschany. Das ist das Dorf, in dem die Vorfahren der Klitschkos jahrhundertelang lebten. Nicht weit vom Dnepr, dem großen Fluß der Ukraine, der so viel Leid gesehen hat wie kein anderer in Europa. Auch das Leid der Klitschkos.
Das Drama der Klitschkos. Der Großvater der berühmten Boxer-Brüder, Rodion Klitschko, wächst hier, noch zur Zarenzeit, auf. Als er 23 ist, Stalin schon an der Macht und die östliche Hälfte der Ukraine schon Teil der neuen Sowjetunion, wird er im Herbst 1933 Unteroffizier des „NKWD“, Stalins gefürchteter Geheimpolizei. Die östliche Ukraine ist gerade zum Schauplatz eines Völkermords geworden. Eben jene Geheimpolizei NKWD überzieht die ukrainische Landbevölkerung, religiös, konservativ und vom neuen kommunistischen System nicht begeistert, in den Jahren 1932 und 1933 auf Stalins Befehl hin mit tödlichem Terror. Die Poizisten nehmen den ukrainischen Bauern alle Lebensmittel weg. Und das Saatgut. Binnen Monaten sterben mindestens 3,3 Millionen Ukrainer an Hunger, auch Mitglieder der Klitschko-Familie. Als die Sowjetarmee nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 in Polen einmarschiert, macht Rodion Klitschko dort Jagd auf „ukrainische Nationalisten“. Seine NKWD-Personalakte erwähnt lobend, dass er an der Verhaftung dreier ukrainischer Widerstandskämpfer beteiligt ist. Zwei werden hingerichtet, einer nach Sibirien deportiert.
Der ermordete Onkel. Doch Rodion Klitschko wird bald selbst vom Täter zum Opfer totalitärer Gewalt. 1941 marschieren die Deutschen in der Ukraine ein. Rodion wird von der Front überrollt, taucht unter. Seine jüdische Frau Tamara, ihr gemeinsamer Sohn Wladimir und seine jüdischen Schwiegereltern dagegen werden von den deutschen Besatzern in einem „Ghetto“ der nahen Kleinstadt Smela interniert. Rodion schafft es noch, seine Frau durch List dort herauszuschleusen. Für seinen kleinen dreijährigen Sohn Wladimir, dem Onkel der Boxer, und für ihre Urgroßeltern kommt die Hilfe zu spät. In derselben Nacht werden sie, wie Tausende andere jüdische Ghetto-Bewohner, erschossen. Einheiten der deutschen SS, der Wehrmacht und ukrainische Helfer ermorden damals, im Herbst 1941, in der ganzen Ukraine systematisch Hunderttausende Juden. Alleine in Kiew werden binnen zwei Tagen mindestens 33 000 Juden in der Schlucht von Babi Yar erschossen.
Großvater Rodion taucht in einem kleinen Dorf unter und versteckt seine jüdische Frau dort zwei Jahre lang vor den Razzien der Deutschen – in einer Truhe, in die er Luftlöcher gebohrt hat. Nachdem die Sowjets die Ukraine 1943/44 zurückerobern, meldet er sich bei seinem alten Arbeitgeber, der sowjetischen Geheimpolizei, zurück. Er wird laut Akte lange verhört, soll erklären, wieso er sich versteckte statt zu kämpfen. Am Ende wird er wieder eingestellt.
Das Schicksal Verbannung. Doch das Schicksal schlägt schnell erneut zu. Offiziell wegen eines Dienstvergehens wird Geheimpolizist Rodion Klitschko im April 1948 nach „Paragraf 33 der Ordnung über den Militärdienst“ entlassen. Und nicht nur das. Rodion und Tamara Klitschko werden in den asiatischen Osten der Sowjetunion, nach Kirgisien, deportiert, 4 000 Kilometer entfernt von der europäischen Ukraine. Möglicherweise ist der Grund auch die jüdische Herkunft von Tamara Klitschko. In der Sowjetunion werden auf Stalins Geheiß damals viele Juden verfolgt, entlassen, verbannt oder gar umgebracht. In der Geheimdienst-Akte Klitschko ist darüber nichts vermerkt.
Der kleine Sohn des Paares, 1947 geboren, ist damals erst ein Jahr alt. Seine Eltern nennen ihn ebenfalls Wladimir, wie seinen von den Nazis ermordeten Bruder. Er wird der Vater der beiden Boxer sein. In den 60er-Jahren meldet er sich zur Armee und macht steile Karriere, als Offizier der sowjetischen Atomwaffen-Truppe. Er heiratet Nadeshda, eine Lehrerin. Ihr erster Sohn Vitali wird 1971 noch in Kirgisien geboren. Sein Bruder Wladimir kommt in Semipalatinsk zur Welt, wo der Vater stationiert wird, nahe dem Atomwaffen-Testgelände der Sowjetunion. 1985 wird der Vater nach Kiew versetzt. Die Klitschkos sind wieder zu Hause, in der Ukraine. Vater Wladimir ist nun Oberst, wird in den 90er-Jahren zum General befördert.
Der Weg von ganz unten. 1991 sind die Klitschko-Brüder 15 und 20 Jahre alt – und im Armeesportklub bereits die besten Boxer. Die 90er-Jahre, die sie hier erleben, sind für ihr Land eine schwere Zeit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion bringt neue Freiheit. Aber auch einen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und der Wirtschaft. Da gibt es auch dunkle Flecken auf der weißen Weste der Klitschkos. Zu einem Schutzgelderpresser, genannt Rybko, „das Fischchen“, sollen die schlagkräftigen Brüder damals engen Kontakt gehabt haben, hat Buchautor Leo Linder recherchiert, dessen Klitschko- Biografie jetzt erscheint, und der auch die NKWD-Akte Klitschko auf verschlungenen Wegen fand. Mafiapate Rybko habe die frühe Boxerkarriere der Klitschkos finanziert, schreibt Linder. 2005 wird Rybko in Kiew auf offener Straße erschossen. Wie gefährlich Vitali Klitschko heute als Politker in Kiew lebt, wird er nur selbst beurteilen können. „Es wird mein brutalster Kampf hier in der Ukraine, denn es ist ein Kampf ohne Regeln“, sagte er letzte Woche einem Reporter der Bild-Zeitung, der ihn dort traf. Wenn es sein müsse, ginge er dafür auch ins Gefängnis. Wie Julia Timoschenko, deren „Vaterlandspartei“ der engste Verbündete von Klitschkos Partei Udar („Der Schlag“) ist. Er ist ein Klitschko. Und die haben schon Schlimmeres durchgestanden.
Erschienen in SUPERillu Heft 51/2013