Interview mit Valentin Falin, erschienen in SUPERillu Heft 12/2015:
Von seinem Küchenfenster in der Moskauer Bolschaja-Jakimanka-Straße aus kann Valentin Falin die Türme des Kreml sehen. Falins Frau Nina, 59, serviert den SUPERillu-Redakteuren Gerald Praschl und Marc Kayser Kaffee. Die Drei-Zimmer-Wohnung der Falins gleicht einem Museum. Das Ehepaar lebt dort inmitten seiner Gemäldesammlung, umgeben von Stilmöbeln und Falins großer Bibliothek.
Moskau, Anfang März 2015. Das Tagesgespräch der meisten Menschen ist „die Krise“. Und der Verfall des Rubels, der binnen eines Jahres fast die Hälfte seines Wertes verloren hat. Für viele Russen heißt das: eisern sparen. Importwaren wurden bis zu hundert Prozent teurer, sind für viele Durchschnittsverdiener nun wieder unerschwinglich. Und auch die Besserverdienenden, von denen es in in der Zehn-Millionen-Stadt- Moskau viele Hunderttausend gibt, müssen überlegen, ob sie sich den Sommerurlaub „im Westen“, in der Türkei, auf Zypern oder in Ägypten, noch leisten können. Der Krieg in der Ost-Ukraine mag ein fernes Kanonen-grollen sein, dass die meisten Russen nur übers Fernsehen erreicht. In ihrem Geldbeutel ist er aber bereits angekommen. Die Zeitungen sind am Morgen des Interviews voll mit einem Thema: dem Mord an dem Oppositionellen Boris Nemzow, der nicht weit von der Wohnung der Falins erschossen wurde.
Eine Tat, die auch Falin sehr beschäftigt …
Herr Falin, viele Menschen in Russland und der ganzen Welt hat der Mord an dem bekannten russischen Oppositionellen Boris Nemzow geschockt. Was denken Sie darüber?
Ich bin über diese Tat sehr traurig. Wir wissen nicht, wer die Täter waren, und ich bezweifle auch, dass dieses Verbrechen je aufgeklärt wird. Das ist bei politischen Attentaten ja leider oft so. Ich kann nicht nachvollziehen, warum Menschen so extrem sein müssen.
Die EU-Russland-Krise macht vielen Menschen in Ost und West Angst. Müssen wir uns vor einem Krieg in Europa fürchten?
Unsere Doktrin war und bleibt: unteilbare internationale Sicherheit! Keiner in Russland plant, die Ukraine oder andere Staaten zu erobern. Ein Krieg gegen Europa wäre fatal für alle Völker, niemand in meiner russischen Heimat will das. Ich vergleiche die Situation von heute aber mit der Zeit, als der Kalte Krieg begann. Genau wie damals lauern darin große Gefahren.
Welche Gefahren sehen Sie?
Im Kalten Krieg war die größte Gefahr ein Kriegsausbruch aus Versehen. Ich erinnere mich da
an viele gefährliche Situationen. Etwa 1961, als wir die Information bekamen, dass die Amerikaner mit Bulldozern die Berliner Mauer abreißen wollten. Und Chruschtschow befahl, in diesem Fall sofort das Feuer zu eröffnen. Ich erinnere mich auch daran, wie aggressiv die Amerikaner auftraten. Sie
flogen mit Spionageflugzeugen über unser Territorium. Und US-
U-Boot-Kommandanten hatten den Befehl, auf eigene Faust ihre Atomraketen abzuschießen, wenn sie für mehr als sechs Stunden keinen Kontakt zur Zentrale haben. Oder denken Sie nur an die Kuba-Krise. Nur zwei Menschen in der US-Führung waren damals dagegen, Kuba anzugreifen, was einen Weltkrieg ausgelöst hätte: die Kennedy-Brüder.
Nicht nur die ukrainische Regierung, sondern auch viele westliche Regierungen werfen Putin vor, dass Russland in der Ost-Ukraine mit Waffen und Soldaten einen Krieg ohne Kriegserklärung führt …
Gerüchte und Plaudereien sind kein Ersatz für Tatsachen.Während des Kalten Krieges waren die ukrainischen Arsenale auch im Osten des Staates so dicht mit Waffen aller Art bestückt, dass diese für mehrere Kriege bis heute reichen würden.
Der Westen sieht Russland als Aggressor …
Das ist kein Novum. Russland, ob das zaristische, das sowjetische oder das heutige, war unentwegt Schuld an dem, was dem Geschmack und den Plänen Londons, Paris’, Berlins und Washingtons nicht entsprach und entspricht. Kern dieser Russophobie ist, dass mein Land ihnen zu groß und zu reich an Naturschätzen ist. Als jemand, der über viele Jahrzehnte an der Außenpolitik der Sowjetunion mitbeteiligt war, ziehe ich aus den Geschehnissen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgende Lehre: Auf Washingtons Wort wie auch auf Versprechen seiner Gefolgschaft ist kein Verlass. Dafür gibt es viele Belege. Ein Beispiel: Bei der Wiedervereinigung Deutschlands hat der Westen Moskau versichert, dass die „NATO kein Zoll nach Osten rücken wird“. Nun stehen NATO-Truppen 150 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt.
Die NATO ist aber nicht einmarschiert. Sondern frei gewählte Regierungen haben dort, mit breiter Unterstützung der Bevölkerung, die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO angestrebt …
Solche freien Wahlen kann man bei der heutigen Kunst, das menschliche Bewusstsein zu klonen, doch arrangieren. Und wie wäre die Reaktion von Washington, wenn zum Beispiel irgendeine „frei gewählte“ Regierung im karibischen Raum oder anderswo ihr Territorium für US-unfreundliche militärische Stützpunkte zur Verfügung stellen würde?
Ein Grund, weshalb zum Beispiel die Baltischen Staaten in die NATO streben, war, dass sie sich vor Russland fürchten. Ist diese Furcht berechtigt?
Nein. Wir haben uns verpflichtet, gute nachbarschaftliche Beziehungen mit den Baltischen Staaten zu pflegen, trotz aller Schikanen gegen die dort lebenden Russen.
Und wie ist das mit der Ukraine? Russland hat die Unabhängigkeit des Landes doch anerkannt, zuletzt im Abkommen von Budapest 1994. Und heute annektiert Russland die Krim. Und vielleicht auch bald das ukrainische Kriegsgebiet um Donezk …
Putin hat diesen Krieg nicht begonnen, und er ist deswegen auch nicht imstande, ihn zu beenden. Was die Krim angeht, waren dort 90 Prozent der Bevölkerung dafür, die willkürliche Entscheidung Chruschtschows von 1954, die Krim an die Ukraine anzugliedern, rückgängig zu machen.
Was soll Putin tun?
Ich habe Generalsekretäre von Chruschtschow bis Gorbatschow beraten, auch wenn sie nicht immer auf mich gehört haben. Ich verfolge selbstverständlich aufmerksam, was auf dem heutigen russischen Olymp vor sich geht. Und kann wiederholen, was ich einmal Gorbatschow gesagt habe. Der Präsident hat eine doppelte Pflicht: Dafür zu sorgen, dass die Gesetze von allen geachtet werden. Und zweitens, diese Gesetze auch selbst zu respektieren. Anders gesagt, man muss sich bewusst sein, dass die Einheit von Wort und Tat in der Politik sehr wichtig ist. Wenn das Wort gebrochen wird, dann entsteht ein Misstrauen, das mit noch so vielen weiteren Worten kaum zu überwinden ist. Wenn wir das nicht verstehen, werden wir nicht zu-einander finden. Eines steht außer Frage: Unser Land kann Wladimir Putin auf jeden Fall dafür dankbar sein, dass er den Zerfall Russlands verhindert hat.
Vertrauen Sie Putin heute?
Ich habe Vertrauen nicht zu Personen, sondern zu Taten. Wenn ich mit seinen Schritten einverstanden bin, dann vertraue ich ihm auch als Person. Ich unterstütze, was Putin heute in dieser Krise
tut. Er versucht, den politischen Sprengstoff zu entschärfen.
Und was soll Deutschland tun?
Viel hängt von Angela Merkel ab. Als Tochter eines Pfarrers sollte sie die Bibel kennen. Zum Beispiel das Buch der Weisheit Salomons im Alten Testament. Dort steht, dass man nicht mit zweierlei Maß messen soll. „Zweierlei Gewichte, sie alle beide sind dem Herrn ein Gräuel“, steht dort. Was wir erleben, ist das Gegenteil, eine Aufweichung des Völkerrechts, das die Amerikaner und der ganze Westen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Deutschland soll sich auf seine eigene Identität und seine eigenen lebenswichtigen Interessen besinnen und auch die lebenswichtigen Interessen Russlands achten, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Die Einigung in der Verschiedenheit, die Tugend der guten Nachbarschaft, das ist das beste Rezept für eine gute Zukunft.
Herr Falin, Sie waren 15 Jahre alt, als die Deutschen Ihre Heimat überfielen, auch viele Ihrer Verwandten kamen um …
Ich bin mit der deutschen Kultur groß geworden, die Liebe zu Deutschland hat mich seit meiner Kindheit begleitet. Als Deutschland 1941 die Sowjetunion überfiel, war das für mich, für uns alle eine ungeheuerliche Tragödie. Wie konnte aus einer der größten Kulturnationen der Welt binnen zehn Jahren nur so eine Bestie werden? Wir haben in diesem Krieg 27 Millionen Menschen verloren. Und ich selbst 27 Menschen aus meinem Verwandtenkreis, die im Krieg umkamen, der Jüngste war vier Jahre alt. Die Deutschen wollten uns vernichten, aber nicht wir sie. „Die Hitlers kommen und gehen, aber die deutsche Nation bleibt“, sagte Stalin schon 1941.
Der Krieg war vorbei, Deutschland wurde geteilt …
Die Spaltung Deutschlands nach 1945 widersprach eigentlich den strategischen Interessen der Sowjetunion. Wir waren für eine politische und ökonomische Einheit des Landes. Es war doch damals umgekehrt so, dass die West-Alliierten die Spaltung des Landes vorantrieben, vor allem die Amerikaner. Westdeutschland war in diesem Punkt doch ein Gefangener der amerikanischen Außenpolitik. Erst unter Chruschtschow hat auch Moskau das Banner der deutschen Einheit abgegeben. Das war ein grober politischer Fehler.
Sie waren 1990 bei den Verhandlungen mit dabei, als es um die deutsche Einheit ging …
Die deutsche Wiedervereinigung war auch für uns mit großen Hoffnungen verbunden. Sie sollte nach unserem Wunsch auch ein Ende der Spaltung Europas und der Welt sein. Schon ab 1985 habe ich Michail Gorbatschow in mehreren Memoranden darauf gedrängt, sich der deutschen Frage anzunehmen. Ich riet ihm dringend
zu einem konkreten Programm. Mein wichtigstes Argument war: Wenn wir es nicht tun, kommt es zu dieser Einheit nicht mit uns, sondern gegen uns.