Interview mit dem ehemaligen polnischen Präsidenten Lech Walesa, Danzig, 2012, für SUPERillu
Von seinem Bürofenster aus hat man den vielleicht schönsten Blick auf Danzig. Vom dritten Stock im „Grünen Tor”, einem vierhundert Jahre alten historischen Gebäude, schaut Lech Walesa, 68, hinunter auf den Langen Markt, das Herz der traditionsreichen Hansestadt Danzig. Er empfängt das SUPERillu-Team ganz leger, im Hawaii-Hemd und sagt: „Setzen Sie sich schon mal, ich komme gleich”. Dann checkt er am Schreibtisch noch seine E-Mails. Ein Mitarbeiter macht mit Walesas Tablet-Computer ein Foto. Walesa nimmt das Gerät, drückt drauf herum und sagt: „Gucken Sie mal, jetzt ist das Foto schon online auf meiner Web-Seite. Ich bin zwar schon im Rentenalter, aber technisch auf dem neuesten Stand.”
Die erste Frage, die wir ihm stellen, ist ihm ein wenig peinlich.
Walesa: Wenn jemand gegen ein solches System kämpft, hat er am Anfang natürlich große Angst. Ich habe die direkte Konfrontation mit dem Regime auch eher gemieden als gesucht. Aber jeder Tag machte einen härter. Sie kommen dann am Ende zu dem Schluss, dass es keinen Weg zurück mehr gibt, sondern nur einen Weg nach vorne. Aber auch dann lebt man natürlich in dem Bewusstsein, dass sie einen jederzeit umbringen können. Ich war aber vollkommen überzeugt, dass wir gewinnen würden. Weil wir recht hatten. Die Berufspolitiker und Militärstrategen in Ost und West haben sich damals eher mit der Anzahl der Panzer, der Raketen, der Soldaten, beschäftigt. Da hätten wir keine Chance auf einen Sieg ge-habt, dazu musst du nicht studiert haben. Ich habe mich damals, 1981, heimlich mit eurem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Paris getroffen. Dem erzählte ich, dass der Kommunismus am Ende ist. Dass die Sowjetunion untergehen wird. Dass Deutschland wiedervereint werden würde. Er hat mir das natürlich nicht geglaubt. Mir dagegen war völlig klar, dass nicht die Anzahl der Waffen, sondern Werte diesen Kampf entscheiden werden. Mein großes Vorbild war damals Johannes Paul II., unser Heiliger Vater. Es ist gelungen – wie es ausging, wissen wir. Wobei kein falscher Eindruck entstehen soll: Hans- Dietrich Genscher war und ist einer der klügsten Politiker seiner Epoche. Ich habe in den letzten 20 Jahren viel von ihm und anderen Berufspolitikern gelernt. Vielleicht zu viel, denn heute würde ich wahrscheinlich genau so denken wie er damals und keine Wunder erwarten. Wir waren uns damals jedenfalls sicher, dass wir recht haben und deswegen gewinnen würden.
Die kommunistischen Funktionäre waren aber auch der Meinung, dass sie der Menschheit etwas Gutes tun …
2011 haben Sie General Wojciech Jaruzelski im Krankenhaus besucht und im Juni 2012 gratulierten Sie ihm zum 89. Geburtstag. Warum haben Sie dem Mann, der Sie damals eingesperrt hat, verziehen?
Walesa: Wissen Sie, Jaruzelski ist am Sterben und ich sterbe auch bald. Warum sollten wir uns nicht mal unterhalten? Ich habe gegen ihn viele Kämpfe geführt und einige verloren. Aber den Krieg habe ich gewonnen. Und er ist der Verlierer. Warum sollten wir uns nicht mal von Mensch zu Mensch unterhalten? Jaruzelski gehört einer unglücklichen Generation an. Geboren 1923, zwanzig Jahre vor mir, war er schon fast erwachsen, als 1939 die Deutschen in Polen einmarschierten. Der Westen hat unser Land damals verraten. Erst am Anfang des Krieges, als Frankreich und England nicht gleich am 1. September 1939 Polen zu Hilfe kamen und Nazideutschland nicht angegriffen haben – und dann noch mal am Ende des Krieges, als der Westen duldete, dass unser Land von Stalin vereinnahmt wurde. Was hätte einer wie Jaruzelski denn machen sollen? Wer damals hier in Polen den Helden spielte, hat nicht überlebt. General Jaruzelski und ich – wir gehen bald ins Jenseits. Warum sollten wir bis zum bitteren Ende Feinde sein? Unser Land ist jetzt frei. Ich freue mich darüber. Ich muss mich doch nicht rächen. Unser Kampf ist zu Ende.
Aber können Sie auch denen verzeihen, die in Polen sogar auf Arbeiter geschossen und viele von ihnen getötet haben? Viele Ihrer Kameraden starben doch im Kugelhagel …
Walesa: Wir haben juristische Strukturen, die sich um so etwas kümmern können. Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte. Politiker sollten sich da nicht mit Einzelfällen beschäftigen. Ich bin ein Politiker. Und ich kann um Gnade für die Täter bitten, aber ich darf doch nicht in Gerichtsverfahren eingreifen. Ich bin außerdem Christ und als Christ muss man verzeihen. Aber natürlich nur unter der Bedingung, dass die Täter ihre Schuld eingestehen. Sie müssen Reue zeigen. Sonst ist Vergebung nicht möglich. Den Rest muss jeder mit Gott ausmachen.
Als Sie geboren wurden, war Ihr Land von den Deutschen besetzt, unser Volk hat dem Ihren viel Leid angetan. Haben Sie den Deutschen verziehen?
Walesa: Wenn ich heute meinem Vater, der wenige Wochen nach Kriegsende 1945 entkräftet von langer KZ-Lagerhaft im Alter von nur 34 Jahren starb, erzählen würde: Papa, heute ist unsere Grenze zu Deutschland ganz offen, sie wird nicht mal mehr von Armeen bewacht, dann würde er mich wahrscheinlich für verrückt erklären. Daran sieht man, wie weit wir die Welt schon zum Besseren verändert haben. Wichtig ist, dass wir uns das auch immer vergegenwärtigen. Vielleicht werden sich in hundert Jahren unsere Urenkel noch mehr wundern, wie es möglich gewesen sein konnte, dass wir uns hier in Europa gegenseitig bekämpft und vernichtet haben. Und den Tätern öfter mal sogar noch Denkmäler setzten. Sie würden denken, wir waren Dummköpfe. Deswegen müssen wir an einer ganz neuen Epoche bauen.
Europa steckt heute in einer schweren Krise. Haben Sie Angst, dass die EU zerbricht?
Walesa: Wollen wir Europäer uns nach all den Katastrophen unserer Geschichte noch einmal prügeln? Ganz bestimmt nein. Unsere europäische Zivilisation geht über die nationalen Grenzen unserer Länder hinaus. Das erfordert auch die Erweiterung europäischer Strukturen. Wir müssen uns einig werden, welche Strukturen wir in Europa vereinheitlichen wollen. Und welche nicht. In einigen Bereichen müssen wir einen gemeinsamen europäischen Staat aufbauen. Das sind für mich in erster Linie die sozialen Bereiche. Die Steuern zum Beispiel. Wenn wir das nicht schaffen, wird es keine weitere gemeinsame Entwicklung geben. Wenn wir das aber verstehen, wird es mit Europa auch weiter vorangehen. Jeder Bürger muss wissen, was wir vorhaben und was das Ziel ist. Wenn die Menschen das verstanden haben, werden sie gerne mitmachen, statt zu protestieren. Aber unsere Politiker schaffen es zu wenig, den Bürgern das zu vermitteln und glaubhaft zu machen. Viele dieser Politiker sind zu sehr der alten Epoche verhaftet, altem Denken. Das muss sich ändern. Viele denken immer noch in diesen alten Kategorien der Nationalstaaten. Deutschland, Polen? Nein, Europa ist wichtig. Deutschland trägt dabei die größte Verantwortung, weil es das stärkste Land in Europa ist. Wir in Polen können da nicht so viel beitragen, denn unser Land trägt immer noch schwer an den Folgen der Verwüstungen der Vergangenheit, die wir nur langsam überwinden.
Während Deutsche und Polen heute ein sehr gutes nachbarschaftliches Verhältnis haben, ist das Verhältnis mit Russland schwierig. Gerade sorgte der Fall Pussy Riot für Aufregung. Wie denken Sie über den Fall?
Walesa: Als ich von Ende 1990 bis 1995 Polnischer Präsident war, wurde die Sowjetunion zerschlagen. Ich fand das am Anfang sehr gut. Aber dann kam die spätere US-Außenministerin Madeleine Albright zu mir und öffnete mir die Augen. Sie zeigte mir Karten mit der Lage der schrecklichen Waffen, über die dieses Land verfügte. Chemische Waffen, Atomwaffen, die nun über das ganze Gebiet dieses zerbrechenden Riesen verstreut waren, auf viele mehr oder weniger instabile Republiken. Das hätte damals zur Katastrophe führen können. Auch das heutige Russland ist zerbrechlich, gut hundert Völker leben darin. In vielen Teilgebieten wissen die dortigen Gouverneure doch gar nicht, was bei ihnen an gefährlichen Waffen herumsteht. Ich verstehe Wladimir Putin, dass er Russland zusammenhalten will. Wenn es anders kommen sollte, würde das ganz Europa destabilisieren. Für mich gibt es zwei Putins. Der eine, der Russland zusammenhält, damit es nicht zerfällt. Und es ein wenig und sehr langsam reformiert. Diesen Putin muss man verstehen und dem sollten wir helfen. Aber es gibt auch einen anderen Putin: der droht, es allen zu zeigen, der von einem neuen Weltreich träumt. Auf diesen Putin muss man höllisch aufpassen, der ist gefährlich. Ich habe schon damals begriffen, dass der Plan, die Sowjetunion zu zerschlagen, ein großes Risiko war. So müssen wir das auch heute sehen. Wir müssen dem guten Putin bei seinen Reformen helfen – aber auf den bösen Putin natürlich auch aufpassen. Und sehr behutsam vorgehen.
Das heißt, es gefällt Ihnen nicht, dass so viel über die Oppositionellen berichtet wird, wie jetzt über Pussy Riot?
Walesa: Nein, nein, natürlich muss man über diese Repressalien berichten. Ich bin für die, die sich dort für die Freiheit einsetzen, nicht für diese autoritäre Regierung. Man darf gegen Andersdenkende nicht so vorgehen. Denen, die gegen den anderen, den gefährlichen Putin kämpfen, dürfen wir natürlich sagen, dass sie es richtig machen und müssen sie auch unterstützen. Aber wir müssen sie auch zur Mäßigung aufrufen, sie davor warnen, was alles passieren könnte. Wir sollten uns natürlich dafür einsetzten, dass die Opposition in Russland mehr Freiräume bekommt. Das darf aber die Kontrolle des Landes über die Waffenarsenale nicht gefährden. Das wäre extrem gefährlich und könnte dazu führen, dass das gewaltige Waffenpotential des Landes bald ganz Europa bedroht.
Interessant! Aber genau das haben viele Westpolitiker doch damals auch Ihnen und der Solidarnosc-Bewegung in Polen vorgeworfen: dass ihr Aufbegehren gegen die Diktatur den Weltfrieden gefährde …
Walesa: Genau so! Heute kann ich verstehen, dass viele westliche Politiker damals keineswegs erfreut darüber waren, dass wir den Aufstand gegen die kommunistische Diktatur gewagt haben. Wenn ich gewusst hätte, wie gefährlich unser Spiel ist, wäre ich wahrscheinlich vorsichtiger gewesen. Deshalb schätze ich heute, dass westliche Politiker wie Helmut Kohl oder Hans-Dietrich Genscher damals vorsichtiger waren. Oh Gott, es war wirklich gefährlich. Ich habe das nicht gesehen, und das war ganz gut so. Denn sonst hätte ich es vielleicht nicht gemacht.
Gewerkschafter, Katholik, Nationalheld. Fühlen Sie sich als Linker oder als Konservativer?
Ich denke nicht in diesen Kategorien. Ich bin ein moderner Mensch und suche nach neuen Lösungen. Auf jeden Fall brauchen wir die freie Marktwirtschaft. Und Privateigentum. Alles andere kann man natürlich verbessern. Die ungerechte Verteilung des Vermögens zum Beispiel. Wir brauchen eigentlich noch mehr Kapitalisten, mindestens dreimal so viel. Wir brauchen mehr Reiche und sie sollen auch
Profite machen. Aber natürlich haben diese Kapitalisten auch die Pflicht, ihr Vermögen zum Wohle der Menschen zu gebrauchen und Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn sie das machen, werden alle zufrieden sein, sie werden Geld verdienen, die Arbeiter werden Jobs haben. Wenn sie das aber nicht machen, werden die Arbeiter ihnen früher oder später ihr Geld wegnehmen. Dafür, dass es genug Jobs gibt, sind nicht die Politiker zuständig, sondern die Kapitalisten. Weil die Kapitalisten sich besser damit auskennen, wie man Arbeitsplätze schafft. Man muss ihnen klar sagen: Kapitalisten, ihr seid verantwortlich für ausreichend Arbeitsplätze! Nicht ein Umsturz, eine Revolution ist die Lösung, sondern sozialer Ausgleich. Wir müssen viel solidarischer werden, als das bisher der Fall ist.
Was für Pläne haben Sie in der Zukunft?
Walesa: Ich war sehr erfolgreich dabei, etwas einzureißen – die kommunistische Diktatur – und es wäre gut, ich wäre genauso erfolgreich, mitzuhelfen, etwas neues aufzubauen – einen europäischen Staat.
Interview: Gerald Praschl, Andrzej Stach