Roland Jahn: Wie die Opposition gegen die SED ins Westfernsehen kam

erschienen in SUPERillu 6/2011

Um einen aufmüpfigen Studenten loszuwerden, schiebt die DDR 1983 den jungen Jenaer Roland Jahn gegen seinen Willen in den Westen ab. Doch der Thüringer lässt nicht locker. Die Staatssicherheit verfolgt ihn und seine Freunde als vermeintliche „Agentengruppe“ mit Autobomben, Spitzeln und Wanzen, weil er auf verschlungenen Pfaden den Widerstand gegen die SED-Diktatur ins West-Fernsehen bringt.

Der bundesdeutsche Grenzer in Ludwigstadt staunt nicht schlecht über die Entdeckung, die er an einem heißen Sommertag 1983 im Gepäckwagen des Interzonenzuges macht, der gerade über die DDR-Grenze gen Westen gerollt war. Er fand darin einen jungen Mann in Knebelketten in ein Abteil gesperrt. Er war von der Stasi in den Zug verfrachtet worden und musste auf diese  Weise gegen seinen Willen die DDR verlassen.

Seine Kritik.
Der junge Mann heißt Roland Jahn, ist 30 Jahre alt und kommt aus Jena. Die Offiziere der DDR-Staatssicherheit, die ihn kurz vorher in den Zug geschleppt und so aus dem Arbeiter- und Bauernstaat »entsorgt« hatten, sind an diesem Tag sehr erleichtert. Jahn und ein Dutzend seiner Freunde, organisiert in einer Gruppe namens »Friedensgemeinschaft Jena«, haben ihnen in den Jahren zuvor Sonderschichten und viel Ärger bereitet. Die jungen Leute der Gruppe kommen sich dabei gar nicht so staatsfeindlich vor, wie sie von der Stasi wahrgenommen werden. Sie wollen den Sozialismus, an den sie noch glaubten, zum Positiven verändern, nicht stürzen. Zunächst.

Seine Wut. Die Geschichte eskaliert, als 1981 ein Freund Jahns, Matthias Domaschk in einer Zelle der Stasi zu Tode kommt, erhängt an einem Heizungsrohr. Mord oder Selbstmord? Ungeklärt. Vieles deutet darauf hin, dass Domaschk mit Absicht oder aus Versehen von den Stasi-Leuten totgeschlagen und die Sache als Selbstmord vertuscht wurde. Die vier beteiligten Stasi- Offiziere, die es wissen müssten,  schweigen. Übrigens bis heute. Jahn und seine Freunde macht das ziemlich zornig. Sie geben keine Ruhe. Plakatieren die Todesanzeige nächtens in der ganzen Stadt, auf Laternenpfählen, Telefonhäuschen, als stille Anklage. Auch ansonsten lassen sie sich den Mund nicht verbieten: Bei der Mai-Demo schmuggelt sich Jahn in die Nähe der Tribüne, mit einer witzigen und zugleich anklagenden Verkleidung: Links ein Stalin-Schnauzer, rechts ein Hitlerbärtchen. Immer wieder wird er vorübergehend festgenommen, doch er lässt sich nicht einschüchtern. Fährt als nächstes mit einer polnischen Fahne am Rad durch Jena, Aufschrift: „Solidarität mit dem polnischen Volk“, der Schriftzug, der seit Jaruzelskis Militärputsch 1981 verbotenen polnischen Gewerkschaftsbewegung »Solidarnosc«. Jahn wird verhaftet und zu 22 Monaten Gefängnis wegen »öffentlicher Herabwürdigung« verurteilt. Einer jener Willkürparagraphen, die die DDR zum Unrechtsstaat machten.

Sein Rauswurf. Er hat dabei noch Glück. Weil es international Proteste hagelt, vor allem von  Amnesty International, wird er nach nur fünf Monaten entlassen.  Jahn organisiert illegale Friedensdemos, die letzte Mitte Mai 1983. Dann wird es SED und Staatssicherheitsdienst zu bunt. Auf direkte Anweisung von Stasi-Chef Erich Mielke wird Jahn am 8. Juni 1983 mit Gewalt in einen »Interzonenzug« gesteckt und so gegen seinen Willen abgeschoben. Es ist der spektakulärste Fall von »Ausbürgerung« in den 80er Jahren.  Der Fall sorgt im Westen für Aufsehen. ”Junger Deutscher mit Gewalt aus seiner Heimat abgeschoben“, titelt die West-Berliner »B.Z.«.  Doch bald ist auch wieder Ruhe. Damals, zeitgleich mit dem von CSU-Chef Franz Josef Strauß eingefädelten Milliardenkredit an die DDR, gelten ostdeutsche Bürgerrechtler wie Jahn auch im Westen als Störenfriede für die Entspannungspolitik und den »Wandel durch Annäherung«, von dem viele westliche Politiker träumen.

Sein Kampf.
Auf Hilfe aus dem Westen braucht er also nicht zu hoffen, als er anfängt, mit anderen »Ausgebürgerten« wie Schriftsteller Jürgen Fuchs von West-Berlin aus weiter Widerstand gegen die SED zu organisieren. Sie schmuggeln Druckmaschinen, Druckpapier, verbotene Bücher und Zeitschriften in die DDR. Dann besorgt Jahn Video-Kameras, damals noch etwas besonderes, lässt die Geräte in die DDR schmuggeln und DDR-Oppositionelle als Kameraleute daran ausbilden. »Sein« Team dreht heimlich Reportagen über die Umweltzerstörung im Braunkohletagebau, verfallene Städte, die Unterdrückung Andersdenkender. Die Aufnahmen werden in den Westen gebracht und finden ihren Weg ins Westfernsehen. In die ARD, die auch fast überall in der DDR zu empfangen ist. Über diesen Umweg erreicht Jahns Kritik an der SED seitdem ein Millionenpublikum in Ostdeutschland.

Seine Feinde, seine Freunde.
Jahn und Fuchs wissen, dass ihnen das MfS auf der Spur ist. Aber von dem gigantischen Aufwand, mit dem Mielkes Truppe sie verfolgt, ahnen sie nichts. Der »Operative Vorgang Weinberg« ist eine der größten Aktionen in der Geschichte der DDR-Staatssicherheit. Hunderte Offiziere sind beteiligt. Das MfS schickt Agenten nach West-Berlin, die sich in die Gruppe einschleusen sollen. Zahllose Telefone werden abgehört. Gaststätten, in denen Jahn und Fuchs verkehren, sind verwanzt, Spitzel sitzen am Tresen. 1986 explodiert vor der Wohnung von Fuchs in West-Berlin sogar eine von der Stasi gelegte Bombe. Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« bringt Horrormeldungen über die vermeintliche »Agentengruppe Fuchs/Jahn«, die in Wirklichkeit nur ein Freundeskreis politisch aktiver junger Ostdeutscher ist, die sich nicht den Mund verbieten lassen wollen. Und die auch nicht bei West-Geheimdiensten „an der Leine hängen“. Sondern mit der gerade gegründeten Grünen Partei und ihrer Gründerin Petra Kelly sympathisieren, weil sie die einzige Westpolitikerin ist, die den Bürgerrechtlern auf Augenhöhe begegnet. Und tatkräftig hilft. Die meisten Westpolitiker jener Zeit halten Oppositionelle wie Jahn entweder für verbohrte Störenfriede, oder für naive Träumer, die keine Chance hätten, in der DDR etwas zu ändern. Doch da täuschen sie sich. Denn in einem System, das auf Propagandalügen, die Verbreitung von Angst und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit setzt, ist nichts gefährlicher, als die ohne Angst und Lügen frei ausgesprochene Kritik. So treffen die per West-Fernsehen in der DDR verbreiteten Berichte eine der verwundbarsten Stellen des Regimes. Genau wie die Untergrundzeitungen, die in Ost-Berliner Kellern gedruckt werden.

Sein Erfolg. Montag, 9.Oktober 1989. Fast alle West-Korrespondenten mussten die DDR verlassen, die anderen werden scharf überwacht. Kein westliches TV-Team schafft es noch, bis nach Leipzig zu kommen, wo es seit Wochen Montagsdemos gibt. Aber dafür zwei der Kameraleute Jahns, Siegbert Schefke und Aram Radomski. Von einem Kirchturm aus filmen sie, wie 70 000 Menschen »Wir sind das Volk« skandieren. Nachts schmuggelt der »Spiegel«-Korrespondent Ulrich Schwarz das Video, versteckt in seiner Unterhose, in den Westen, zu Jahn, der es sofort an die ARD weiterreicht.
Als »Tagesthemen«-Moderator Hans-Joachim Friedrichs unglaubliche Bilder aus der DDR ankündigt, hat er nicht untertrieben. Via West-Fernsehen können nun alle sehen, was ihnen die SED und sämtliche DDR-Medien verheimlichen: Dass der Widerstand gegen die Diktatur zur Massenbewegung geworden ist. Ermuntert dadurch gehen nun Menschen im ganzen Land auf die Straße. Die Initialzündung zur friedlichen Revolution.
Ohne Roland Jahn und seine Mitstreiter wäre es dazu vielleicht nie gekommen.

Gerald Praschl
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Von 1989 bis 2011 war Roland Jahn Redakteur beim ARD-Magazin »Kontraste«. 1999 bekam er das Bundesverdienstkreuz. Am 28. 1. 2011 wählte ihn der  Bundestag zum neuen Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, als Nachfolger von Marianne Birthler, deren Amtszeit endet.

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