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Historischer Treff von Vaclav Havel mit DDR-Bürgerrechtlern 2009

2009 verlieh SUPERillu dem tschechischen Freiheitshelden, Präsidenten und Bürgerrechtler Vaclav Havel die Goldene Henne. Im Rahmen seiner Reise zur Preisverleihung reiste er nach Berlin. Es war seine letzte Reise nach Deutschland, seine letzte Auslandsreise insgesamt,  und es war schwierig, sie zu organisieren – mein Job.  Mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand – und weil es zum damaligen Zeitpunkt keine direkten Linienflüge von Prag ins nahe Berlin gab, charterten wir für viel Geld ein Privatflugzeug, mit dem ich ihn am Nachmittag der Preisverleihung, dem 30. September 2009, am Prager Flughafen abholte, der nach seinem Tod 2011 übrigens nach ihm benannt wurde.

Es war genau der 20. Jahrestag der berühmten Genscher-Rede in der Prager Botschaft.  Havel sollte am Abend im Berliner Friedrichstadtpalast den Preis entgegennehmen, genau von Hans-Dietrich Genscher als Laudator verliehen, dem dies eine große Ehre war. Genscher war dabei damals noch topfit. Nur war das Problem die Logistik. Zum einen wollten wir dem schwerkranken Havel, der so gerne persönlich kommen wollte, eine angenehme Anreise bieten. Zum anderen hatte Genscher am selben Nachmittag aber noch eine Rede zu dem historischen Jahrestag in der Prager Botschaft zu halten. Bitte heutigen CO2-Aktivisten nicht weitererzählen:  Wir haben Havel mit der Privatmaschine um 15 Uhr in Prag abgeholt, sie flog uns in 45 Minuten nach Berlin. Anschließend flog sie wieder zurück nach Prag und holte Genscher gegen 19 Uhr dort ab. Er landete kurz vor Beginn der Preisverleihung in Berlin und kam noch rechtzeitig im Berliner Zentrum an. Havel und ich haben uns im Flugzeug übers Leben unterhalten, wahrscheinlich eindrücklich, denn ein paar Monate später schickte er mir zu Weihnachten 2009 eine liebevolle Karte mit seiner berühmten Herzchen-Unterschrift und ein Foto von ihm mit einer persönlichen Widmung, die ich in Ehren bewahre.

Ein Sohn der Prager Bourgeoisie, dessen Großvater, Vater und Onkel in Prag in Zeiten der freien Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit die Lucerna und die Barandov-Filmstudios aufbauten, ist nicht in den Westen abgehauen, sondern blieb auch unter den schwierigen Verhältnissen der sowjetischen Besatzung und  der kommunistischen Herrschaft  in seiner Heimat, ein  Künstler und Menschenrechtler mit feinem Sinn für das Wesentliche – auch für Andersdenkende und anderswo Stehende. Er wollte keineswegs  alle Kommunisten verteufeln (nur bitte nicht mehr regieren lassen).  Gegen „die Russen“ hatte er sowieso nichts, den er wusste, dass die Mehrheit der Opfer in den Massengräbern der Bolschewiken und des NKWD Russen waren. Als ich ihm erzählte, dass ich aus einer Familie von (den insbesondere von den Nazis so genannten) „Sudetendeutschen“ komme,  erzählte er mir davon, dass es ihm ein großes Anliegen war, im September 1989 als privater Helfer in der deutschen Botschaft in Prag Essen auszuteilen.  Und dass wir das zwar alles genau wissen, uns aber nicht so sehr davon belasten lassen sollen, sondern  in Frieden und im Hier und Heute miteinander leben sollen, was ich genauso sehe.

Er bot mir nochmal ein Interview an, eigentlich war das sowieso ausgemacht.  Ich lehnte demütig ab und erklärte ihm, dass ich stattdessen die begrenzte Lebens-und Belastungszeit eines Schwerkranken lieber für ein Wiedersehens-Treffen mit Bürgerrechtlern aus der DDR nutzen würde.  Legendär ist ja, das er, als er am 29. Dezember 1989 zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt wurde, als seine dringende erste Amtshandlung ansah – mit Recht – viele Bürgerrechtler aus anderen zuvor kommunistisch beherrschten Staaten Zentraleuropas zu einer Silvesterparty in die Prager Burg – seinem Amtssitz – einzuladen, darunter auch viele DDR-Bürgerrechtler. Es war, eventuell- nein wahrscheinlich – die Sieges-Party des Jahrhunderts.

Mehr als vier oder fünf sollten es aber nicht sein, um ihn nicht zu sehr zu belasten. Wir trafen uns, kurz nach der Preisverleihung im Hotel Bayerisches Haus in Potsdam (er wollte ruhig wohnen)  mit Markus Meckel, Roland Jahn, Arnold Vaatz und Gerd Poppe  (ich gebe schmählich zu, alles Männer, dafür schrieb ich später zum Ausgleich ein Buch über die wichtige Rolle der Frauen bei der Friedlichen Revolution in der DDR, gelobe Besserung) zum Nachmittagstee. Es wurde ein interessanter ruhiger Nachmittag, hier Auszüge, autorisiert von allen Teilnehmern.

Hier Auszüge aus dem Gespräch von 2009

SUPERillu: Herr Präsident, was haben Sie sich 1989 erhofft. Und wie viel von diesen Träumen ist heue wahr geworden?

Václav Havel: Die Grundwerte, die wir erreichen wollten, haben wir erreicht. Aber es gibt doch viele Dinge, die wir noch nicht erreicht haben, mit denen ich nicht zufrieden bin. Wir waren auf Allerlei vorbereitet, aber nicht darauf, dass alles so langsam und langwierig vor sich geht. Wobei ich hier von der Situation in meinem Land, in Tschechien spreche. Es zeigt sich, dass es ungefähr zwei Generationen dauert, damit die politische Elite alle Deformationen, die noch aus der Zeit des totalitären Regimes stammen, ablegt. Ich weiß nicht, ob die Erfahrungen hier in Ostdeutschland ähnlich sind.

Markus Meckel: Wir haben bei uns in Deutschland die Erfahrung gemacht, dass es erst einmal sehr schnell ging. Wir haben 1989 den Durchbruch erkämpft, die Gestaltung der Institutionen war durch die Vereinigung mit dem Westen gegeben. Aber der mentale, geistige Nachholbedarf ist bis trotzdem heute groß. Es gibt viele Defizite. Die demokratischen Institutionen in Ostdeutschland sind bis heute sehr schwach ausgeprägt, der Organisationsgrad der ganzen Gesellschaft ist sehr gering. Wir haben zum Beispiel in Ostdeutschland, ähnlich wie in allen anderen postkommunistischen Ländern nur sehr wenige Menschen, die sich in den politischen Parteien engagieren. Weniger als ein Prozent der ostdeutschen Bürger sind Mitglied einer Partei, ganz ähnlich wie in allen postkommunistischen Staaten. Und dann haben wir dazu auch noch die Stärke der postkommunistischen Partei, die auch von der Anti-Stimmung gegen die politischen Parteien profitiert. Insofern haben wir ein wirkliches Demokratie-Problem.

Gerd Poppe: Wir haben hier in Ostdeutschland zudem das Problem, dass das Zusammenwachsen zwischen Ost- und Westdeutschen deutlich länger dauert, als wir uns das vorgestellt haben. Auch nach 19 Jahren deutscher Einheit ist immer noch eine deutliche Trennung spürbar. Insofern ist der Zeitraum, den Sie, Herr Havel prognostizieren, zwei Generationen, leider auch für uns hier in Ostdeutschland realistisch. Erst meine Enkelkinder werden diese Unterscheidung zwischen Ost- und Westdeutschen hoffentlich nicht mehr machen. Heute ist es doch noch sehr verbreitet, dass selbst junge Leute, aus Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen, noch nie in Ostdeutschland gewesen sind und sehr wenig über die Vergangenheit der kommunistischen Diktaturen in Ostdeutschland und Osteuropa wissen.

Václav Havel: Sie haben von dem mangelnden Vertrauen in die politischen Parteien gesprochen. Das können wir bei uns in Tschechien auch beobachten. Da stellt sich die Frage, ob das nicht eine Krise des Parteiensystems insgesamt ist. Im Prinzip ist es die Frage, ob wirklich alles wichtige in den Parteien entschieden werden muss. Natürlich sind die Parteien ein wichtiger Bestandteil des Pluralismus in jeder Demokratie. Aber trotzdem entsteht die Frage, ob es nicht wichtig wäre, dass die Parteien sich auf die Stellung reduzieren, die ihnen gebührt und dass sie nicht zu Meta-Strukturen des Staates werden. Ich habe auch die Erfahrung in Diskussionen mit jungen Leuten gemacht, dass man bei ihnen einen gewichtigen Widerstand spürt, sich in einer Partei zu engagieren, dass es unter vielen sogar als regelrechte Schande gilt, einer Partei beizutreten. Wir müssen diese Skepsis akzeptieren.

Roland Jahn: Wir spüren auch hier in Deutschland eine Entpolitisierung der Jugend. Die natürlich viel damit zu tun hat, dass die Gesellschaft sehr kompliziert geworden ist. Und dass es für junge Menschen schwierig geworden ist, Ansatzpunkte zu finden, wo sie sich mit ihrem Protest oder ihrer politischen Meinungen einbringen können. Für viele Probleme gibt es keine einfachen Lösungen. Da ist dann oft die Meinung da, man könne sowieso nichts ändern. Und das politische Engagement reduziert sich dann, wenn überhaupt, darauf, bei Wahlen seine Stimme abzugeben. Die neuen Medien, das Internet, sind hier eine große Chance insbesondere für junge Leute, einen Diskurs über die Gesellschaft zu führen und es ist gut, wenn viele das nutzen.

SUPERillu: Sie haben nun viel über Probleme gesprochen. Aber ist der 20ste Jahrestag des Mauerfalls nicht vor allem ein Grund zum Feiern?

Gerd Poppe: Natürlich haben wir sehr viel zu feiern. Wir lebten damals in einer Diktatur. Unser Ziel war die Durchsetzung der Menschenrechte und der Demokratie. Dieses Ziel haben wir erreicht. Wenn ein Teil der Bevölkerung das nicht so sieht, dann haben sie wohl vergessen, unter welchen Umständen sie damals in der Diktatur gelebt haben. Wir sollten vor allem gemeinsam mit unseren Nachbarn feiern. Gerade wir ostdeutschen Oppositionellen waren sehr beeinflusst auch von Ereignissen in der CSSR, Polen und Ungarn. Der Prager Appell der Charta 77 von 1985 hat uns damals in Ost-Berlin zum Beispiel außerordentlich beeinflusst. Das sind Dinge, die sehr intensiv auf die Bildung einer Opposition in der DDR eingewirkt haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Und auch das ist ein Grund zum feiern, dass wir damals, vor 20 Jahren, fast gleichzeitig, diese Diktatur überwunden haben.

Václav Havel: Dieser Einfluss war sicher gegenseitig. Wir wussten natürlich auch um die Opposition in den anderen Ländern. Uns war klar: Wenn es gelingen kann, dann nicht in einem einzelnen Land, sondern nur gemeinsam in allen Ländern. Als zum Beispiel in Polen 1980 die unabhängige Arbeiterbewegung Solidarność gegründet wurde, habe ich mich sehr darüber gefreut. Aber ich wusste auch, dass es nicht gut ausgehen kann, denn das alles passierte nur in einem einzigen Land. Genau wie 1968, beim Prager Frühling, bei uns. Dass es 1989 anders war, war ein großes Glück. Gorbatschow war mit seiner Perestroika schon so weit, dass er keine Panzer mehr schicken konnte, ohne seine eigene Politik zu revidieren. Ich bin mir sicher, dass die totalitären Systeme bei uns so oder so früher oder später zusammengebrochen wären. Aber ohne die Perestroika von Gorbatschow wäre das sicher erst viel später der Fall gewesen.

Markus Meckel: Ich finde es sehr wichtig, dass wir heute diese Erinnerung an die friedliche Revolution nicht nur national pflegen, sondern dass wir das möglichst gemeinsam tun, damit der mitteleuropäische Zusammenhang präsent bleibt. Deshalb fand ich es auch wichtig, wie wir hier in Deutschland jetzt den Tag des Mauerfalls, den 9. November feiern. Da müssten den Einladungen an die Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn eigentlich die Priorität gehören vor der Einladung an die Alliierten im Westen, wenn man den historischen Zusammenhängen gerecht werden will.

Arnold Vaatz: Ich feiere heute erstens, dass die Dinge, die ich damals in der DDR als unnatürlich empfunden habe, nämlich der Entzug von Freiheitsrechten, der Entzug von Freizügigkeit und das Verbot der Meinungsfreiheit noch zu meinen Lebzeiten ein Ende gefunden haben. Und ich feiere, dass ich und alle anderen die Sache überlebt haben. Das ist das Wichtigste. Wer nun wie viel Anteil an dieser Entwicklung hatte, ist sekundär. Wir hatten doch von 1945 bis etwa 1985 eine Konstante, die darin bestand, dass am Rande des russischen Imperiums regelmäßig Unruhen und Ausbruchsversuche stattfanden, und das regelmäßig in Moskau ein orthodoxer Machtwille diese Ausbruchsversuche mit Waffengewalt niedergeschlagen hat. Das war beendet, als die KPDSU bemerkt hat, dass sie in einer rettungslosen Sackgasse gelandet war, den Anschluss an die Welt verloren hatte. Und Gorbatschow als neuem Parteichef die Möglichkeit gab, seine Vorstellungen umzusetzen. Plötzlich kam die Bewegung aus Moskau selbst. Die Logik bis dahin war doch, dass Moskau uns immer vorgegeben hat, wo es langzugehen hat. Das war bis 1985 immer negativ. Und ab diesem Kurswechsel 1985 sehr positiv. Nach der alten Logik hätten die Machthaber in der Peripherie wie Erich Honecker und Gustav Husak ihre Truppen nach Moskau schicken müssen, um diese Bewegung niederzuschlagen. Dass das angesichts der Kräfteverhältnisse nicht möglich war, ist klar. Das war die elementare Veränderung, die es gab. Und weniger das Entstehen einer Opposition.

Vaclav Havel: Trotzdem war die Opposition wichtig. Zum ersten, weil die Oppositionellen Zeugnisse des Geschehens nach außen gebracht haben, eine Öffentlichkeit geschaffen haben, Zum zweiten war die Opposition wichtig, weil aus ihren Reihen Strukturen und Menschen kamen, die bei der Machtübernahme 1989 in den Startlöchern standen. Man konnte die Verantwortung ja nicht einfach beliebigen Passanten überlassen. Es waren zwar viele Leute, die keine politische Ausbildung hatten, die aber trotzdem durch ihre Arbeit in der Opposition zumindest gewisse politische Erfahrungen und eine gewissen Prominenz hatten. Wer sonst hätte damals mit der kommunistischen Partei verhandeln können? Das konnten nur die unabhängigen Initiativen tun.

Gerd Poppe: Ich möchte an diesem Punkt Arnold Vaatz ebenfalls ein wenig widersprechen. Das Imperium war am Bröckeln. Und Gorbatschows Ziel war nicht, Demokratie herzustellen, sondern das kommunistische System aufrechtzuerhalten. Das Imperium musste sich bewegen, wenn es noch eine Überlebenschance haben musste. Die entscheidenden Impulse zu der Erkenntnis, dass das nicht mehr mit Repression geht, kamen aus den mitteleuropäischen Ländern, aus Polen zum Beispiel, wo sich trotz Verbots und Verfolgung die Solidarność als politische Kraft etabliert hatte.

Roland Jahn: Die Oppositionellen waren natürlich wenige und man kann sich fragen, wie groß ihre Rolle eigentlich war. Aber das entscheidende, was wir feiern sollten, ist der Sieg der Hoffnung über die Resignation, den Sieg über die Angst. Hier haben die wenigen Oppositionellen eine wichtige Rolle gespielt. Solidarność oder die Charta 77 waren doch in diesen dunklen Jahren ein Hoffnungsschimmer, dass sich etwas ändern kann. Oppositionelle, die ihre Angst ablegten und sich offen auflehnten, waren auch für die Bevölkerung ein großer Anstoß dafür, ihre Angst vor dem Regime abzulegen. Wenn die Menschen die Angst ablegen, ist das fsd Ende der Diktatur. Dieses Ende der Angst 1989 sollten wir feiern.

Vaclav Havel: Zu Gorbatschow stimmen beide Meinungen. Zum einen hat er versucht, das kommunistische Regime aufrechtzuerhalten. Zum anderen hat er genau damit zu dem Ende des Regimes beigetragen. Insofern ist er eine tragische Figur.

Markus Meckel: Wir können aus dieser Analyse lernen, wie wir heute in der deutschen, tschechischen, europäischen Außenpolitik mit totalitären Regimen anderswo umgehen. Was wir mit unseren Mitteln tun können, um die Zivilgesellschaft, die Demokratie dort zu befördern.

Vaclav Havel: Das denke ich auch. Wir dürfen nicht vergessen, ständig an das Unrecht in Diktaturen heute zu erinnern, egal was das für Länder sind, egal was das für eine Diktatur ist, eine rechte wie in Birma oder eine linke wie in Kuba. Wir sind verpflichtet, uns dazu bei jeder Gelegenheit zu äußern, schon aus unserer Erfahrung als einstige Oppositionelle in einer Diktatur heraus, wie wichtig damals für uns internationale Solidarität war.

Arnold Vaatz: Ich wollte auch nicht bestreiten, dass die Opposition in Tschechien und den anderen Ost-Block-Staaten eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber es war nicht selbstverständlich, dass der Weg der Geschichte gerade so ging. Es gab damals zwei große kommunistische Führer, die bemerkten, dass ihr System in einer Sackgasse gelandet ist. Beiden war klar, dass ihr Sozialismus auf zwei Füßen steht, dem Volkseigentum an den Produktionsmitteln und dem Ein-Parteien-System. Der eine, Gorbatschow, meinte, der Erfolg des Westens bestünde im Wettbewerb der Ideen. Insofern gab er diesen Wettbewerb der Ideen frei und versuchte dafür, den anderen Teil, die sozialistische Produktionsweise zu erhalten. Und der andere meinte, der Erfolg des Westens beruhe auf dem Wettbewerb in der Wirtschaft. Er liberalisierte die Wirtschaft, ließ Wettbewerb zu. Und erhoffte sich dadurch eine konkurrenzfähige Wirtschaft und Wohlstand in der Bevölkerung. Um damit das andere Bein seiner kommunistischen Diktatur zu erhalten, das Ein-Parteien-System. Und an der Macht zu bleiben. Dieser andere war der chinesische Führer Deng Xiaoping. Gorbatschows Land, die Sowjetunion ist von der Landkarte verschwunden. Und Deng Xiaopings Land ist heute eine wirtschaftliche Weltmacht, Herausforderer des Westens. Was wäre geworden, wenn damals auch Gorbatschow den chinesischen Weg gegangen wäre? Und was wäre dann aus uns geworden? Insofern haben wir Gorbatschow nicht vieles, sondern alles zu verdanken.

Schicksalsmoment 1989: Wie die Montagsdemos ins West-Fernsehen kamen

Ihre Namen stehen (bis jetzt) nicht im Geschichtsbuch. Aber ohne sie hätte es die Wende in der DDR 1989 vielleicht nicht gegeben. Wie die Montagsdemos 1989 ins West-Fernsehen kamen. Und die atemberaubende Geschichte dahinter: Die Story von Siegbert Schefke (links)  und seinem Mitstreiter Aram Radomski (rechts).

Ganz Deutschland starrt gebannt auf die Bilder, die die ARD-Tagesthemen am 10.Oktober 1989 ausstrahlen: 70 000 Demonstranten auf dem Marsch durch Leipzig, und ihr Sprechchor, der die Stadt erbeben lässt: „Wir sind das Volk“. Aufnahmen von der Leipziger Montagsdemo einen Tag zuvor. Erstmals können Millionen DDR-Bürger via West-Fernsehen sehen, was ihnen die SED Führung verheimlicht: dass der Widerstand gegen die Diktatur zu einer Massenbewegung geworden ist. Ermuntert dadurch gehen nun Menschen im ganzen Land auf die Straße – das Signal zum Sturz des SED-Regimes.

Die Bilder stammen von zwei jungen DDR-Bürgern: Aram Radomski und Siegbert Schefke aus Ost-Berlin.

Siegbert Schefke, geboren 1959 in Eberswalde, hat eigentlich keine sehr typische »Widerstandsbiographie«. Nach einer Lehre zum Baufacharbeiter mit Abitur absolviert er anders als die meisten, die später zu »Bürgerrechtlern« werden, seinen regulären Grundwehrdienst, bekommt die Zulassung zu einem Studium an der Hochschule für Bauwesen in Cottbus. Nach dem Studienabschluss ist er ab 1985 als Bauleiter beim Wohnungsbaukombinat Berlin tätig, das damals im Osten der Hauptstadt große Neubaugebiete errichtet.

SAT1 Filmpremiere "Wir sind das Volk" im Kino Kosmos Siegbert Schefke (links) und Aram Radomski Berlin 24.09.2008 Foto: Nikola Text: Praschl
SAT1 Filmpremiere „Wir sind das Volk“ im
Kino Kosmos
Siegbert Schefke (links) und Aram Radomski
Berlin
24.09.2008
Foto: Nikola
Text: Praschl

Er führt dort ein Doppelleben. Von 9 bis 15 Uhr wirkt er beim „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“. Die Mittagspausen, die er zu Telefonaten mit dem nach West-Berlin ausgebürgerten Bürgerrechtler Roland Jahn nutzt, werden mit der Zeit immer ausgedehnter. Nach Feierabend engagiert er sich für die Ost-Berliner Umweltbibliothek, die seit 1986 zum Treffpunkt und zur Schaltzentrale der DDR-Opposition wird.

Lange geht das nicht gut. Bereits seit 1985 hat er Reiseverbot, darf, wie die meisten Oppositionellen, die DDR nicht mehr verlassen. Das Regime will damit vor allem Kontakte von DDR-Bürgerrechtlern mit der polnischen Solidarnosc und der tschechischen Oppositionsbewegung Charta 77 erschweren. Im Januar 1987 stellt ihn sein Chef beim Wohnungsbaukombinat wieder einmal zur Rede, nachdem Schefke als Teilnehmer einer Oppositionsveranstaltung in Pankow aufgefallen war. Der letzte Auslöser für Schefke, seinen Job, den er schon lange für Zeitverschwendung hält, zu kündigen. So wird er zum »Vollzeit-Revolutionär«. Ist Mitorganisator oppositioneller Konzerte in der Zionskirche. Im Keller der Umweltbibliothek entstehen illegale Untergrundzeitungen wie der »Grenzfall«  oder der »Moaning Star« und die legalen, als »kirchenintern« deklarierten »Umweltblätter«. In einem Land, in dem sämtliche Medien vom Regime kontrolliert und zensiert werden, sind diese kleinauflagigen Postillen zwar kein Leuchtturm der Pressefreiheit, aber doch immerhin eine Kerze im Sturm.

Über die West-Medien wollen Schefke und seine Mitstreiter mehr Menschen in der DDR erreichen, als das mit diesen Samisdaten möglich ist. Zunächst mit selbstgemachten Radio-Sendungen, die sie umständlich in Ost-Berlin produzieren, auf Kassette in den Westen schmuggeln und dort jeden letzten Montag im Monat als Sendung »Radio Glasnost« auf einem West-Berliner Privatsender ausstrahlen – empfangbar auch im Osten. Noch weit mehr DDR-Publikum erreichen Filme, die Schefke und Radomski mit Hilfe von aus dem Westen eingeschmuggelten Video-Kameras drehen und die via West-Fernsehen in der DDR ein Millionenpublikum erreichen. Die illegalen Drehs sind riskant, die Themen brisant: die Umweltzerstörung im Braunkohlerevier von Espenhain, der Verfall der ostdeutschen Innenstädte wie in Halberstadt. Für den Fall ihrer Verhaftung haben sie im sicheren Westen vorbereitete »Bekenner-Videos« hinterlegt. Doch die kommen nie zum Einsatz. Die Stasi überwacht die Untergrund-Journalisten zwar mit Spitzeln, Sabotage und offener Beschattung, verhaftet sie aber nicht. Ob aus Furcht vor Protestaktionen des Westens, von dem die DDR zunehmend finanziell abhängig ist. Oder schlicht, weil die Stasi-Offiziere, die den »Operativen Vorgang Satan« gegen Schefke und seine Mitstreiter führen, die Wirkung der Revolutionäre mit der Fernsehkamera unterschätzen. Am Tag nach der Montagsdemo von Leipzig, als Schefkes TV-Aufnahmen zum Zündfunken der Revolution werden, sind sie eines besseren belehrt.

 

Kuba 2008 – Fidel. Frust. Und Flucht.

erschienen in SUPERillu Heft 34/2008.

Dem normalen deutschen Urlauber scheint Kuba wie ein kleines Paradies. Und das zum Schnäppchenpreis. 14 Tage unter Palmen im Badeort Varadero einschließlich Flug und»all inklusive« gibt es ab 1164 Euro pro Person. Das von der Außenwelt weitgehend abgeriegelte Ferienressort hat einen herrlichen Strand, saubere Straßen, schöne Restaurants und viele Shopping-Möglichkeiten. Dank totaler Überwachung gibt es hier auch kaum ein Problem mit Taschendieben oder Nepp am Straßenrand. Unter den ungefähr 200 deutschen Touristen, die an diesem Freitag mit einer Direktmaschine aus Deutschland hier landen, falle ich glücklicherweise erst einmal nicht auf.

Weil die kubanische Stasi westliche Journalisten entweder gar nicht ins Land lässt oder dort extrem überwacht, reise ich als Tourist. Ich und mein Kollege, der Superillu-Fotograf Nikola Kuzmanic haben nur zwei kleine unauffällige Fotoaparate dabei. Visitenkarten, Presseausweise und mein Adressbuch blieben auch daheim. Nur ein paar Telefonnummern habe ich auf Zettel notiert, und im Gepäck versteckt: von der deutschen Botschaft – für den Fall, dass wir Probleme mit den »Genossen « von der kubanischen »Sicherheit « bekommen. Und von einigen Kontaktleuten, die uns ein paar Tage über die Insel begleiten könnten.

Ich muss vorsichtig sein. Nicht, weil ich selbst Angst vor der kubanischen Stasi hätte. Mein westlicher Pass schützt mich. Mehr als uns ein paar Stunden festhalten, können sie nicht. Oder mich des Landes verweisen, wie das im Jahr 2005 dem sächsischen CDU-Politiker Arnold Vaatz passiert ist, als der sich mit kubanischen Oppositionellen treffen wollte. Aber meine Gesprächspartner und Dolmetscher auf Kuba sind durch mich in Gefahr: Zusammenarbeit mit ausländischen Journalisten ist dort eine schwere Straftat. Nicht wenige Kubaner, deren einziges »Vergehen « es war, Berichte für ausländische Medien über die Zustände auf Kuba zu liefern, sitzen im Gefängnis.

Die letzte Verhaftungswelle lief im Jahr 2003.

Damals ließ Castro 75 friedliche Oppositionelle zu bis zu 28 Jahren Gefängnis verurteilen. 58 davon sitzen noch. Um das Risiko so klein wie möglich zu halten, habe ich den meisten meiner Gesprächspartner auf Kuba gar nicht erzählt, wer ich bin. Außerdem habe ich in dieser Reportage einige Vornamen und Ortsnamen verändert, um die Menschen zu schützen. Anders als Erich Honecker, der sich aus Furcht vor Sanktionen aus dem Westen, von dem er spätestens seit Anfang der 80er Jahre zunehmend wirtschaftlich abhängig war, scheute, DDR-Regimegegner wie BärbelBohley oder Robert Havemann längere Zeit einzusperren, verfolgt Fidel Castro seine Gegner gnadenlos. „Er hat die Ereignisse während der friedlichen Revolution 1989 genau studiert. Und weiß, wie gefährlich für ein System der Lüge Bürgerrechtler werden können, die offen aussprechen, was schiefläuft“, sagt der kubanische Oppositionelle Boris Santa Coloma, der seit 1991 im Exil lebt und den ich kurz vor meinem Abflug in Berlin treffe. Santa Coloma kennt das Regime auch vom Schreibtisch der Macht aus. Von Ende der 70er Jahre bis 1990 war er Presseattache der kubanischen Botschaft in der DDR. Sein gleichnamiger Vater fiel beim Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba 1953, Castros erstem, gescheiterten Putschversuch gegen die Batista-Diktatur. Und wird in Kuba bis heute als Held verehrt. Coloma berichtet, dass Castro von seiner Ost-Berliner Botschaft damals detaillierte Berichte über den genauen Verlauf der friedlichen Revolution in der DDR anforderte. „Er hat daraus gelernt. Auf Kerzen und Gebete ist er vorbereitet“, ist sich Santa Coloma sicher. „Das war einer der Gründe, wieso er an der Macht blieb, als der Sowjetkommunismus stürzte.“

Nicht Kerzen und Gebete, aber Blumen und Gebete sind die Ausdrucksformen der kubanischen Oppositionsgruppe „Damas de Blanco“, der „Damen in Weiß“. Es sind die Frauen der inhaftierten Regimegegner. Jeden Sonntag treffen sie sich zur Messe in der katholischen Kirche Santa Rita im Diplomatenviertel von Havanna, Miramar. Die Kirche liegt direkt an der Quinta Avenida, einer Allee gesäumt von Botschafts-Villen. Bis zu seinem Rücktritt im Februar 2008 der tägliche Arbeitsweg von Fidel Castro auf der Fahrt von seinem prächtigen Anwesen im Vorort Siboney zu seinem Amtsitz am Platz der Revolution. Die Protokollstrecke. Am zweiten Tag nach meiner Ankunft bin ich in der Kirche Santa Rita zum Sonntagsgottesdienst. Die Damen sind unschwer zu erkennen. Rund 20 Frauen, mutterseelenallein ganz vorne, in einer der ersten Reihen vor dem Altar. Vor dem Gottesdienst beten sie gemeinsam einen Rosenkranz für die „Presos“, für die Inhaftierten. Eine Szene, die an die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche 1989 erinnert. Vor den Damen sitzt niemand, und hinter ihnen sind gleich ungefähr zehn Sitzreihen frei. Die etwa 500 anderen Gottesdienstbesucher halten „Sicherheitsabstand“. Und es ist auch klar: Unten den 500 Frommen ist nicht nur die eine oder andere Botschafter-Gattin, sondern auch sicher nicht wenige Stasi-Spitzel. Ich und mein Kollege Nikola nehmen zwei Reihen hinter den Damen Platz,gewissermaßen im „Niemandsland“. Einige der Damen drehen sich irritiert um. Ich nehme an, dass ich mit meinen ortsuntypisch blonden Haaren in ihren Augen sofort über jeden Stasi-Verdacht erhaben war. Als wir lächeln, lächeln eine der Damen zurück. Wir haben uns verstanden.

Eine Woche später werden wir die Damen in Weiß auf dem Malecon wiedertreffen, der Meerespromenade von Havanna. Mit Blumen in der Hand, in weißen T-Shirts, die die Fotos ihrer inhaftierten Angehörigen zeigen, ziehen sie auf dem Bürgersteig entlang. Sie gehen mit der illegalen Demo ein großes Risiko ein. Zwei Männer mit Amateurkameras machen Aufnahmen. Es sind (davon darf man ausgehen) keine Stasi-Leute, sondern ebenfalls mutige Oppositionelle, wahrscheinlich Mitarbeiter des Oppositionssenders TV Marti aus Miami. Von US-Territorium und einem US-Militärflugzeug vor der Küste aus strahlt der Sender ein von Oppositionellen gestaltetes Fernseh- und Radioprogramm aus. Eine Kameratruppe, die an die Aktivitäten von Roland Jahn, Siegbert Schefke und Aram Radomski erinnert, die Ende der 80er Jahre mit solchen Aufnahmen, die über das West-Fernsehen fast alle DDR-Bürger erreichten, der Opposition Öffentlichkeit verschafften.

Wie das Westfernsehen in der DDR haben TV Marti und Radio Marti auf Kuba viele Zuschauer und Zuhörer. Die Glaubwürdigkeit der Sender leidet aber darunter, dass sie durch die US-Regierung und ihre Geheimdienst finanziert werden. Zum zweiten wird ihr Empfang anders als damals in der DDR bei ARD und ZDF durch Störsender behindert. Und zum dritten senden die Marti-Macher ein recht nachrichtenlastiges Programm, das oft an den Erwartungen des Zielpublikums, der 12 Millionen Kubaner auf der Insel, vorbeigeht. Fast in jedem Wohnzimmer, in das ich während meiner Reise komme, läuft zwar praktisch von morgens bis abends die „Glotze“. Allerdings gucken die Menschen lieber in Spanien, in Mexiko und auf Kuba produzierte „Telenovelas“ oder Übertragungen von Baseball-Spielen, dem Nationalsport. Und wenn sie das Radio anmachen, möchten sie oft lieber Salsa-Musik statt Probleme hören. Die kubanischen Medien selbst werden vollständig vom Regime zensiert. Das Zentralorgan „Granma“ ist von der ersten bis zur letzten Seite voll mit Jubelmeldungen über den Sozialismus, der Verherrlichung ihrer „Helden“ Che Guevara, Fidel oder Raul und von Hasspropaganda auf die USA. Trotzdem wird das Blatt in Millionenauflage täglich gekauft oder abonniert. Mutmaßlich wegen der „Zweitverwertung“. Toilettenpapier ist eine der großen Mangelwaren auf Kuba.

Die Altstadt von Havanna wird in meinem Reiseführer als »malerisch« beschrieben. Ein Schauplatz großer Geschichte. Im Jahre 1515 gegründet, ist sie eine der ältesten Städte der Neuen Welt. Die Konquistadoren Cortez und Pizarro brachen von hier auf, um die Reiche der Azteken und Inkas zu erobern. Als der deutsche Gelehrte Alexander von Humboldt vor 200 Jahren Kuba erforschte, war das alte Havanna eine prächtige und reiche Stadt voller barocker Kirchen, Paläste und mächtiger Festungsmauern. Nach 49 Jahren Sozialismus ist das historische Zentrum ein Haufen Ruinen voller Trümmer und stinkendem Müll. Die Menschen hier leben in drangvoller Enge. Sogar die Hauseingänge sind zu Wohnungen umfunktioniert. Vier bis fünf Menschen, die sich ein einziges Zimmer teilen, sind keine Seltenheit.

Auf dem Weg in die berühmte Schweinebucht im Süden der Insel komme ich an einer der zahlreichen Polikliniken vorbei. Das viel gepriesene kubanische Gesundheitswesen will ich mir natürlich näher angucken. In der Klinik werde ich sehr freundlich empfangen. Osmel (40), einer der 25 Ärzte hier, führt uns durch alle Räume und zeigt uns die Ausstattung. Ein modernes Röntgengerät. Und Ultraschall. Die Geräte kommen aus China, Kubas neuem »großen Bruder«. Die Chinesen suchen auf Kuba nach Öl. Im Gegenzug liefern sie Reis. Einige tausend Reisebusse. Und medizinisches Gerät. Der OP-Raum hat eine Klimaanlage, die Krankenzimmer haben saubere, neue Betten. Für die Patienten, die im Wartezimmer sitzen, ist die Behandlung hier tatsächlich kostenlos. Sie brauchen auch nichts für eine Krankenversicherung zu bezahlen. Für ein Land der Dritten Welt sicher eine Errungenschaft. Einer der Haken ist, dass die Ärzte nur umgerechnet 20 Euro im Monat verdienen. Viele Mediziner arbeiten deswegen lieber als Taxifahrer oder Kellner in den Touristenregionen, wo sie »schwarz« das Zehnfache verdienen können. „Was kriegen denn die Ärzte bei euch?“, fragt mich Osmel, und ich wage kaum zu erzählen, dass ein junger deutscher Arzt nach dem Studium mit ungefähr 1 800 Euro netto im Monat im Jahr im Krankenkenhaus anfängt. Für die Patienten ist zwar die Behandlung umsonst. Aber die meisten Medikamente müssen sie selbst zahlen. Wer kein Geld hat, der hat Pech gehabt. Und dann gibt es da noch die „internationale Solidarität“, die man auch Menschenhandel interpretieren könnte. Das Castro-Regime bildet seit Jahrzehnten weit über den eigenen Bedarf hinaus Mediziner aus. Alleine 20 000 kubanische Ärzte sind, „ausgeliehen“ vom kubanischen Staat, für geringe Löhne in Venezuela tätig. Im Gegenzug liefert Venezuela unter anderem Öl zu Sonderkonditionen. Als eine weitere große Errungenschaft der Revolution gilt das Schulsystem. Anders als in vielen Ländern Lateinamerikas gehen auf Kuba alle Kinder zur Schule. Es gibt fast keine Analphabeten. Das ist gut. Es fehlen aber immer mehr Lehrer. Gebildete Pauker flüchten ins westliche Ausland. Oder versuchen, am Straßenrand Touristen zu neppen.

Es nervt ungeheuer, als Ausländer dauernd angemacht zu werden.Wir sind noch keine fünf Minuten im Hotel, als uns der erste Kellner unbedingt für 70 Dollar eine Kiste Schmuggelzigarren andrehen will, die er und seine Kollegen im Abstellraum verstecken. Und wenn wir für die Nacht noch eine »Lady« bräuchten, sollten wir ihm gleich Bescheid sagen. Kaum parken wir irgendwo, dauert es oft keine Minute, bis die ersten Dollar-Jäger uns entdeckt haben. „What do you want, Sir? Cigars? Chickas? A private restaurant?“ Zigarren? Prostituierte? Ein privates Restaurant? Nach ein paar Tagen geht mir die penetrante »Hilfsbereitschaft« so auf die Nerven, dass ich beschließe, künftig überhaupt nicht mehr zu reagieren. Das ist gar nicht so einfach. An der Ecke stoppt mich ein Polizist und behauptet, ich wäre verbotenerweise links abgebogen. Was gar nicht stimmt. „Treinta Peso“, fordert er dreist, dreißig Dollar-Peso, ungefähr das Doppelte seines eigenen Monatslohns. Die Tarife kommen mir als gebürtigen Westler irgendwie bekannt vor von der „Interzonen-Autobahn“ (das war bei uns in Bayern in den 80er Jahren damals der gängige Name für die Transit-Strecke von Hof nach West-Berlin). 100 West-Mark für 10 Stundenkilometer zu schnell. Zu zahlen sofort und in bar bei der „Volkspolizei“. Mag sein, dass das Geld damals tatsächlich der DDR-Staatskasse zu gute kam und damit Kindergärten und Schulen finanziert wurden. Aber bei diesem kubanischen Volkspolizisten ist völlig klar, dass er beabsichtigt, sich die begehrten Devisen selbst in die Tasche zu stecken. An dem roten Autokennzeichen meines Mietwagens hat er erkannt, dass es sich bei mir um einen westlichen Touristen handelt, also um einen besonders lukrativen Fall. Nach einer halben Stunde Streit gibt er auf.

Auf einem Parkplatz fordert ein herbeigeeilter alter Mann mit grauen Haaren von mir einen Dollar-Peso. „For looking“, meint er. Für auf das Auto aufpassen. Ich ignoriere ihn einfach. Aber als ich eine Stunde später zurückkomme, sitzt er direkt vor dem Auto mitten in der prallen Sonne und liest Zeitung. Ich gebe auf und drücke ihm den Dollar-Peso in die Hand. Er erzählt, dass er nur ungefähr fünf Euro Rente bekommt. „Bei den Einheimischen, die hier parken, ist nichts zu holen. Aber die Ausländer bringen ein Dollar-Peso pro Auto.“ Ungefähr 20 Dollar-Peso (Pesos convertibles) verdient er damit im Monat. Dafür steht er von morgens bis abends in der Hitze. Er presst die für ihn wertvolle Münze, die ich ihm gerade gegeben habe, zwischen Daumen und Zeigefinger. Sein Blick wird ganz streng: „Ein Liter Milch im Laden kostet bei uns 1,30 konvertible Peso. Ich brauche also noch 30 Cent, dann kann ich mir heute wenigstens Milch kaufen. Ja, mein Freund, das ist hier ein sehr hartes Leben! Wollen wir tauschen?“ Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen, weil ich den armen alten Mann so herablassend behandelt habe.

Die USA. Traum- und Hassland zugleich. Viele der Menschen, mit denen ich spreche, schimpfen auf die »überheblichen Gringos«. Und die böse CIA. Der Zorn auf das »Imperium«, ohnehin in ganz Lateinamerika sehr stark verbreitet, wird auch vom »Zentralorgan«, der Zeitung »Granma«, und dem kubanischen Fernsehen täglich geschürt. Doch für viele Kubaner sind die USA auch das Land ihrer Sehnsucht nach einem besseren Leben. Etwa die Hälfte hat Verwandtschaft dort, meist in Miami. Anders als in der DDR erlaubt das Regime neuerdings auch vielen Kubanern auszureisen und im Ausland zu arbeiten. In der Hoffnung auf die Devisen, die sie nach Hause schicken. Doch seit Ende der 90er-Jahre, als Hunderttausende über das Meer in das 150 Kilometer entfernte Florida flohen, haben die USA ihre vorher großzügigen Einreiseregeln stark eingeschränkt. Sie wollen nicht noch mehr Flüchtlinge im Land. Wer die gefährliche Passage tatsächlich überlebt, wird heute von der US-Küstenwache wieder in Fidel Castros Reich abgeschoben. Wer keine Verwandtschaft im Ausland hat, hat es auch schwer, ein Visum für ein anderes Land zu ergattern.

Wir treffen Pedro. 29 Jahre alt. Er ist im Jahr 2004 nach Nassau auf die Bahamas ausgewandert, arbeitet dort als Fliesenleger. Anders als in den 90er Jahren, als der einzige Weg nach draußen über ein Floß auf dem Meer führte, konnte er „legal“ ausreisen. Junge Leute, an denen das Regime aufgrund ihrer niedrigen Bildung kein Interesse hat, bekommen neuerdings eine Ausreiseerlaubnis, wenn sie ein Einreisevisum eines anderen Landes vorweisen können. Der Gedanke, der von Castros Seite dahintersteckt ist nicht nur, damit potentielle Aufmüpfige loszuwerden. Sondern auch, dass die „Ausreiser“ ihre in den USA oder anderswo hart verdienten Dollars ja ohnehin zu einem nicht unwesentlichen Teil später nach Hause zur Verwandtschaft überweisen werden. Und das Regime einen erheblichen Teil davon abschöpfen kann. Über zwanzig Prozent Gebühren für den Umtausch von Dollars in Pesos. Und über weit überhöhte Preise für westliche Konsumgüter in den Devisenläden. Pedro ist nur ein paar Wochen in Havanna. Er hat es geschafft, dass die Bahamas seiner Mutter Martha (60) ein Visum ausgestellt haben. Nun will er die kleine Wohnung in der Altstadt von Havanne, die er von dem auf dem Bahamas verdienten Geld für 15 000 Dollar im Jahr 2006 gekauft hat, verkaufen und seine Mutter mitnehmen. Sein Zorn auf Castro ist grenzenlos: „Wir lassen alles zurück und wollen in dieses verfluchte Land hier nie wieder zurück.“ Er träumt davon, in Nassau eine eigene Firma zu gründen. „Das kann ich auf Kuba nicht machen. Hier ist doch sowieso alles verboten.“ Ähnlich wie Pedro haben die meisten Menschen, die ich treffen, von Castro die Nase voll. Mich wundert in den Tagen auf Kuba immer wieder, wie offen die Menschen über diese Dinge mit mir reden, die ich überwiegend zufällig auf der Straße kennenlerne und die mich meist, auch weil sie natürlich an Kontakten zu „Westlern“ interessiert sind, meist schnell in ihre Wohnung einladen. Trotz des Überwachungsapparats, der ähnlich wie in der DDR funktioniert. Eine Offenheit, die ich als Westler, der gelegentlich als politisch interessierter Jung-Tourist in den 80er Jahren Ost-Berlin besuchte, dort nie erlebt habe. Ich hatte Angst, „die“ hatten Angst“. Das war mein Erleben damals. Größere Offenheit so wie jetzt auf Kuba habe ich im ehemaligen Ostblock damals nur in Prag und in Bulgarien Ende der 80er Jahre erlebt, wo die Menschen, die ich traf, mir als Westler gegenüber in aller Öffentlichkeit keinen Hehl aus ihrem Hass auf das kommunistische Regime machten.

Die Schaufenster der Devisen- Läden sind prall gefüllt. Alle Läden gehören den staatlichen Devisenfirmen, meist dem vom Militär kontrollierten Konzern Cimex, der so ähnlich funktioniert wie in der DDR die Intershops. Nur dass es anders als in der DDR auf Kuba praktisch überhaupt keine normalen Läden mehr gibt, in denen man etwas halbwegs Brauchbares für die eigentliche Landeswährung, den Peso Cubano , gibt es eigentlich gar nicht mehr. Nur noch die Tageszeitung des Regimes, ein Mangosaft am Straßenrand. Oder die staatlich verordneten Lebensmittelrationen in den sogenannten Libreta-Läden, die über das ganze Land verteilt, versteckt hinter aus einfachen Brettern genagelten Türen und bröckelnden Fassaden für den Insider an jeder Straßenecke zu finden sind. Was gibt es dort zu kaufen?

Eine interessante Aufgabe, das herauszufinden. Gut, hundertausende von Kubanern arbeiten in diesen Libreta-Läden. Nach ein paar Tagen lernen auch wir einen kenne, der dort hinter dem Tresen steht. lädt uns am nächsten Morgen ein, mal vorbeizuschauen. : „Komm, ich zeig es dir!“ Sorgfältig wiegt er sieben Pfund Reis ab und kippt sie auf den Ladentisch. Dann zwei Pfund weißen Zucker. Und drei Pfund braunen Zucker. Eine kleine Schüssel Erbsen, eine Schüssel Bohnen. Ein Päckchen Kaffee. Seife, eine Zahnpasta. Eine kleine Flasche Speiseöl. Ein bisschen Salz. Und vier Schachteln Zigaretten. Dazu meistens noch fünf Eier. Und ein oder zwei kleine Stücke Fleisch oder Fisch im Monat. Wenn etwas da ist. „Das ist es!“, meint er. „Das hier bekommt ein Kubaner im Monat von Fidel.“

In einem anderen Libreta-Laden treffen ich Olivia, eine 70 Jahre alte Frau. Wir stehen gemeinsam vor lauter leeren Regalen. Plötzlich spricht sie mich an, obwohl wir uns überhaupt nicht kennen: „Schau dir das an“, meint sie, „so weit ist es gekommen! Keine Milch, kein Fleisch, kein Fisch!“ Sie erzählt mir, dass ihr Mann vor 50 Jahren auf Fidel Castros Seite gekämpft hat. Und das sie mit der Revolution große Hoffnungen verbanden: „Die haben alles falsch gemacht.“ Sie besteht darauf, dass wir sie mit mir zusammen vor dem Laden fotografieren. Und meint dazu: „Die meisten schweigen, weil sie Angst vor Fidel haben. Aber ich nicht. Ich habe keine Angst.“ Mit 70 muss sie vielleicht auch keine mehr haben. Ähnlich wie die Rentnerinnen aus Plauen im Vogtland, die im Herbst 1989 Fotos und Informationen über die Montagsdemos über die nahe Westgrenze brachten.

Nur einmal im Monat wird in den Libreta-Läden Fisch ausgeteilt. Obst und Gemüse gibt es überhaupt nicht „auf Libreta“. Sondern nur auf den „Agromercados“, den Bauernmärkten. Nach der Revolution wurden sie verboten, und wenn ein Bauer dabei erwischt wurde, dass er „privat“ verkaufte, dann landete er im Gefängnis. Anfang der  90er-Jahre, als das Land nach dem Zusammenbruch des großen Bruderlandes, der Sowjetunion, vor einer Hungerkatastrophe stand, ließ Castro die Bauernmärkte wieder zu. Die Preise hören sich für unsere Ohren billig an. Für kubanische Verhältnisse sind sie gesalzen. Ein Kilo Schweinefleisch kostet umgerechnet 1,40 Euro. Der Arbeitslohn von fast drei Tagen. Zwiebeln 50 Eurocent pro Kilo, einen Tageslohn.

Im Februar 2008 trat Fidel Castro zurück. Wie lange er noch zu leben hat, wie es um seine Krebserkrankung steht, weiß niemand. Seitdem regiert offiziell Bruder Raul (77), der Militärchef. Und eine Clique von einigen jüngeren Funktionären rund um Politbüromitglied Carlos Lage Dávila (56) und Außenminister Felipe Perez Roque. Wir einer von ihnen nach Castros Tod der Gorbatschow von Kuba? Aufmerksam beobachtet die westliche Welt seitdem jede kleine Veränderung. Einige schwerkranke inhaftierte Oppositionelle kamen frei. Der Besitz von Handys und Computern wurde erlaubt. Es gibt sogar Gerüchte, dass das marode Libreta-System komplett abgeschafft werden und künftig nur noch die Devisenwährung gelten soll. Das käme dem Ende des sogenannten »Sozialismus« gleich. Klar ist aber auch, dass die kommunistischen Spitzenfunktionäre an der Macht bleiben wollen – ähnlich wie in China. Wahrscheinlich wird es keine „Revolution mit Kerzen und Gebeten“ geben. Sondern eher einen Wandel nach ungarischem Muster, wo Partei-Funktionäre wie Guyla Horn einen sozialdemokratisch geprägten Neuanfang wagten und einen Anschluss an den Westen und einen Machtkompromiss mit der bürgerlichen Opposition suchten.

Solange Fidel Castro noch lebt, geht die Zensur und die Verfolgung Andersdenkender aber ungehindert weiter. Anfang 2009 begeht Kuba den 50. Jahrestag von Castros Revolution. Zu feiern gibt es eigentlich nichts.

Volker Michalowski: Im Knast Bautzen verging selbst mir das Lachen

Sogar als Stasi-Mann holt Spaßmacher Volker »Zack« Michalowski noch Lacher. In Wirklichkeit war er zur DDR-Zeit auf der anderen Seite, bei der Opposition. Mein Beitrag aus SUPERillu, 2006.


Volker Michalowski als Stasi-Schreibmaschinen-Experte in "Das Leben der Anderen" 2006
Volker Michalowski als Stasi-Schreibmaschinen-Experte in „Das Leben der Anderen“ 2006

Eine witzige Szene im Film »Das Leben der Anderen«. Die Stasi hat das Originalmanuskript eines regimefeindlichen Artikels, der im »Spiegel« erschienen ist,in die Hände bekommen. Und versucht jetzt, den Autor zu enttarnen, um ihn zu verhaften. Ein quirliger, kleiner Schriftexperte der Stasi,gespielt von Volker Michalowski, hat das Manuskript untersucht.Und berichtet jetzt seinen Chefs,was er herausgefunden hat. Eigentlich ist der Hintergrund bierernst. Genauso akribisch ist die DDR-Staatssicherheit Andersdenkenden hinterhergejagt. Doch Michalowski spielt den Schriftexperten so witzig,dass der Kinosaal vor Lachen bebt.In der Tat hatte der absurde Jagdtrieb der Staatssicherheit ja auch etwas sehr Lächerliches.

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Volkmar Kleinert: Ich wollte nicht spitzeln. Und fürchtete die Rache der Stasi

In „Das Leben der Anderen“ spielt er einen DDR-Regisseur, der sich aus Verzweiflung über sein von der SED verhängtes Berufsverbot das Leben nimmt. Auch im wirklichen Leben hatte er Probleme mit der Stasi.

Volkmar Kleinert (rechts) mit Sebastian Koch in "Das Leben der Anderen" 2006
Volkmar Kleinert (rechts) mit Sebastian Koch in „Das Leben der Anderen“ 2006

Volkmar Kleinert hat in dem Kino-Hit »Das Leben der Anderen« eine tragische Rolle. Er spielt den Regisseur Albert Jerska,der völlig gebrochen ist,weil das SED-Regime ein Berufsverbot gegen ihn verhängt hat.Und der sich deshalb schließlich selbst umbringt. In SUPERillu erzählt Kleinert, damals Schauspieler am Deutschen Theater in Ost-Berlin und bei der DEFA, was er selbst mit SED und Stasi erlebte:

„Ich war als junger Mann in den 50er-Jahren voller Sympathie für die sozialistischen Ideale. Ich bewunderte die Antifaschisten, die das KZ überlebt hatten. Und die vielen Intellektuellen wie Anna Seghers oder Jürgen Kuczynski, die am Aufbau einer großen Sache mitwirken wollten. Doch die kühne Idee vom Sozialismus pervertierte mit den Jahren immer mehr. Die DDR war am Ende so desolat, dass sie nur noch durch den Staatssicherheitsapparat zusammengehalten werden konnte. Mit Überwachung, Spitzeln, Willkür.

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