Der Hitler-Stalin-Pakt und die Ukraine

Von Gerald Praschl, erschienen in der Zeitschrift “Horch und Guck”,
Heft 81, Dezember 2015, S. 40-43. (www.horch-und-guck.info)

Der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen überschatten bis heute das junge Land auf der Suche nach sich selbst. Die heutige Westgrenze der Ukraine verläuft ziemlich genau entlang der einstigen Demarkationslinie des Hitler-Stalin-Pakts. Die von der Sowjetunion 1939 annektierten Gebiete wurden der seit 1919 existierenden Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeschlagen, die bis dahin im wesentlichen nur aus den bereits seit dem 17. und 18. Jahrhundert zum russischen Zarenreich gehörenden Teilen der Ukraine bestanden hatte. Die Ukraine in ihren heutigen Grenzen ist also, wenn man so will, ein Produkt des Hitler-Stalin-Pakts. Ihre Gegenwart ist bis heute davon überschattet.

Viel Wert legt der neue Direktor des Ukrainischen Instituts des nationalen Gedenkens  Wolodymyr Wjatrowytsch, 38, auf Ausstellungen im öffentlichen Raum, die derzeit in vielen größeren Städten des Landes zu sehen sind und die den Betrachtern den neuen Blick auf die bewegte jüngere Geschichte des Landes eröffnen sollen. Eine solche Ausstellung eröffnete er im September 2015 auch direkt vor dem Kiewer Rathaus, nahe des Majdan, 17 Monate zuvor Schauplatz einer blutigen Revolution, bei der es nicht nur um die Zukunft des Landes ging, sondern auch um die Sicht auf seine Vergangenheit.

Zum Hitler-Stalin-Pakt ist dort zu jetzt lesen:
„Der Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939 ermöglichte den Anfang des Krieges. Nach dem geheimen Zusatzprotokoll zu dem Pakt wurde Osteuropa zwischen den beiden Diktatoren aufgeteilt. Die Regierung der UdSSR verleugnete 50 Jahre lang die Existenz dieses Zusatzprotokolls“. Und weiter: „Für die Ukraine begann der Krieg am 1. September 1939. 120 000 Ukrainer kämpften auf der Seite der polnischen Armee gegen die Deutschen. Schon am ersten Tag des Krieges wurden Lemberg und andere Städte der West-Ukraine bombardiert. Am 17. September 1939 überschritt die Rote Armee ohne Kriegserklärung die polnische Grenze und marschierte Richtung Westen. Die Sowjetunion trat an der Seite von Nazi-Deutschland in den Krieg ein.“ Außerdem heißt es: „Die Rote Armee und die Wehrmacht kooperierten in den Schlachten gegen die polnische Armee. Entlang der Demarkationslinie haben die Verbündeten sich die okkkupierten Territorien aufgeteilt. Lemberg, das zuerst von der deutschen Wehrmacht angegriffen wurde, kapitulierte erst vor der Roten Armee. (…) Der Grenz- und Freundschaftsvertrag wurde am 28. September unterzeichnet. Dem zufolge annektierte die Sowjetunion die West-Ukraine und Belarus.“ Es dauerte 76 Jahre, bis diese eigentlich bekannten Fakten offiziell und öffentlich für alle den Weg auf den Kiewer Majdan fanden.

Doch auch Wjatrowitschs’ Darstellung hat Lücken. Er ist als derzeit führender Akteur staatlicher Geschichtspolitik in der Ukraine deswegen auch alles andere als unumstritten. So ersetzt er alte, vom Sockel gestürzte Helden, mit deren Mythos die Sowjets ihre Macht untermauerten, an vielen Stellen durch neue Helden: Die des ukrainischen Widerstands gegen die Sowjetmacht, von denen einige sicher einen Platz im Museum, aber nicht unbedingt ein Denkmal verdient haben. Auch weil sie, genau wie Stalin und zur selben Zeit, ebenfalls mit Hitler kollaborierten.

Die Ukraine nach dem Hitler-Stalin-Pakt
Die 700 000 Einwohner des heute ukrainischen Lwiw, Lemberg, könnten zur Sowjetzeit an ihrem Gedächtnis und ihrem Verstand gezweifelt haben. Wurde doch auch dort, in einem der westlichsten Zipfel der Sowjetunion, jedes Jahr am 9. Mai des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ gedacht, der von 1941 bis 1945 gedauert habe und an dessen Ende die Stadt von den „faschistischen Aggressoren“ befreit worden sei. Die Lemberger hatten es anders in Erinnerung. Der Krieg begann für sie am 1. September 1939, als Flugzeuge der Wehrmacht einen Luftangriff auf die Stadt unternahmen und unter anderem den Bahnhof zerstörten. Zwei Wochen später standen Einheiten der Wehrmacht schon vor den Toren der Stadt, die von der polnischen Armee noch verbissen verteidigt wurde. Doch dann erschien ein anderer Feind plötzlich in ihrem Rücken: die Sowjetarmee. Binnen weniger Tage besetzten die Sowjets nicht nur Lwiw, sondern alle seit 1921 nach dem polnisch-sowjetischen Abkommen von Riga polnisch regierten Teile von Ost-Galizien, Wolhynien und Polesien (siehe Karte).

Den Einwohnern der bis 1918 noch Österreich-Ungarischen Bezirksstadt Lemberg erschienen die neuen Herrn fremd. „Die Sowjetbürger, die Ostpolen regierten, fielen von Fahrrädern, aßen Zahnpasta, benutzten Toiletten als Waschbecken, trugen mehrere Armbanduhren, BHs als Ohrenwärmer oder Lingerie als Abendkleider“, beschreibt Timothy Snyder in seinem Buch „Bloodlands“ ihre Wahrnehmung. Deutlich schlimmer aber war der Terror, der mit den Sowjets und ihrer Geheimpolizei NKWD einzog. Im nun sowjetisch besetzten Ostpolen fielen ihm laut Snyder 21.892 vormals polnische Bürger zum Opfer, darunter auch ethnische Ukrainer, Juden und Belarussen. Die traumatischen Erlebnisse der 21 Monate sowjetischer Besatzung waren der Grund, wieso viele insbesondere ukrainischstämmige Einwohner der Stadt den Einmarsch deutscher Truppen über die nahe Demarkationslinie am 22. Juni 1941 im Glauben, jetzt würden sie von diesem Joch befreit, zunächst begrüßten. Ein schrecklicher Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte.

Ein kleiner Ausschnitt der Geschichte der heutigen Ukraine. Und auch nur die Geschichte eines Teils des Landes, der sich heute unter dem Sammelbegriff „West-Ukraine“ in den Medien wiederfindet, von Luzk, Lwiw und Riwne im Norden über Ternopil und Iwano-Frankiwsk bis in das erst 1940 sowjetisch besetzte Tscherniwzi (Czernowitz) im Süden. Des Teils der heutigen Ukraine, der als Folge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 sowjetisch wurde. Der weit größere Rest des Landes war nach dem Sieg der roten „Reiterarmee“ im Bürgerkrieg in der Ukraine bereits seit 1922 Teil der Sowjetunion. Der blutige Terror der ersten beiden Sowjet-Jahrzehnte hatte hier ungehindert gewütet. Ganze Bevölkerungsgruppen waren ihm zum Opfer gefallen. Erst Priester und Landbesitzer, dann Millionen Kleinbauern in der von den Sowjets absichtlich ausgelösten Hungersnot von 1932/33, dem Holodomor. Ein Begriff, der dem russischen Wort für Hunger, Golod, entlehnt ist und wörtlich „Aushungerung“ bedeutet. Schließlich, in den Jahren des „Großen Terrors“ Ende der 30er Jahre, traf es vor allem städtische Intellektuelle, viele davon Kommunisten.

Diese flächendeckende Ausrottung gesellschaftlicher Eliten und ganzer Bevölkerungsgruppen ist mit ein Grund, wieso in diesem nicht „nur“ rund 45, sondern 70 Jahre sowjetisch beherrschten Teil der Ukraine die zur Sowjet-Zeit verbreiteten Geschichtsmythen stärker wirkten und auch noch weit nach dem Ende der Sowjetunion intensiver fortleben als im Westen des Landes. Wenn es einen „Ost-West-Konflikt“ in der Ukraine gibt – worüber man streiten kann – dann ist es nicht ein vermeintlicher zwischen „Ukrainern“ und „Russen“. Und auch nicht nur einer um den zukünftigen politischen Weg des Landes. Sondern auch ein Streit um die Sicht auf die Vergangenheit. Insofern ist die glaubwürdige Aufklärung und Aufarbeitung dieser Vergangenheit neben wirtschaftlichen und politischen Reformen und der Abwehr der russischen Aggression einer der Schlüsselfaktoren für Erfolg oder Misserfolg des Neuaufbruchs des Landes, der 2014 von der Majdan-Revolution ausging.

Der Hitler-Stalin-Pakt und die ihm folgenden Kriegsjahre sind bei dieser Aufarbeitung die zentralen Punkte. Noch bis 2013 feierte zum Beispiel die Stadt Charkiw, weit im Osten liegend und mit 1,5 Millionen Einwohnern zweitgrößte Stadt der Ukraine, mit Sowjetsymbolik und Militärparade den „Tag des Sieges“ im „Großen Vaterländischen Krieg“ zu Füßen der größten Lenin-Statue des Landes. Neben Roten Fahnen, Hammer und Sichel waren auch die Jahreszahlen sehr präsent: „1941-1945“. Wie zur Sowjetzeit wurde das verhängnisvolle Bündnis der beiden Diktaturen 1939 dort nicht nur totgeschwiegen. Offizielle Teilnehmer der Parade führten gar stolz große Stalin-Porträts mit sich, salutiert von der Tribüne aus von der gesamten politischen Führung Charkiws, das damals von Parteigängern des 2014 gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch regiert wurde.

Was für ein Kontrast zum Gedenken an das Kriegsende nur zwei Jahre später, 2015. Der neue Präsident des Landes, Petro Poroschenko, lud in Kiew zu einer zentralen Gedenkfeier ein, bei der nicht in erster Linie des Sieges, sondern der Opfer des Krieges, der jetzt auch in Kiew „Zweiter Weltkrieg“ heißt und von 1939 bis 1945 dauerte, gedacht werden sollte. Am Revers trugen er und viele Teilnehmer eine rote Mohnblume: Symbol der Trauer über die Gefallenen und zivilen Opfer.

Die Opfer und die Kämpfer

Derer hat die Ukraine besonders viele zu beklagen. Acht bis zehn Millionen Ukrainer, ein Viertel bis zu einem Drittel der Vorkriegsbevölkerung, schätzt Historiker Snyder, fielen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Zweimal wurde das gesamte Land von der vernichtenden Walze des Kriegs überrollt, beim Vormarsch der Deutschen 1941. Und bei der Rückeroberung durch die Sowjets 1943/44. Vom besonders umkämpften Charkiw, das in Panzerschlachten viermal den Besatzer wechselte, blieb nicht viel übrig. Kiews Prachtmeile, der Kreschtschatik, 2014 Schauplatz der Majdan-Revolution, wurde 1941 von den Sowjets gesprengt, um möglichst viele einmarschierende Wehrmachtssoldaten in den Tod zu reißen. Zahllose Gedenkorte östlich und westlich des Dnepr zeugen von den erbitterten Panzerschlachten 1941 und 1943, denen hier Hunderttausende zum Opfer fielen. Ebenfalls Hunderttausende Ukrainer starben als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter Nazi-Deutschlands.

Die meisten Ukrainer, rund sechs Millionen Männer und Frauen, kämpften in der Sowjetarmee. Viele aber auch anderswo. 120 000 bei der polnischen Armee, die 1939 von Deutschen und Sowjets überrannt wurde. 80 000 waren Angehörige der US-Streitkräfte, 45 000 in der britischen Armee. Europa wurde also auch maßgeblich von ukrainischen Soldaten von der Nazi-Herrschaft befreit. Rund 100.000 Ukrainer kämpften darüber hinaus bei der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA, die sich als Partisanentruppe 1942 vor allem aus der seit Ende der 20er Jahre existierenden Untergrund-Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) formiert hatte. Die UPA kämpfte hinter der Front sowohl gegen die deutschen Besatzer als auch gegen die ab 1943 wieder in die Ukraine vorrückenden Sowjets. Die letzten UPA-Kämpfer in den Wäldern gaben erst Mitte der 50er Jahre auf, nachdem ihr Anführer, Roman Schuchewytsch, 1950 bei Lemberg in einem Gefecht mit den Sowjets gefallen war.

Ziel der UPA-Partisanen war die Errichtung eines unabhängigen Staates, für den ihre Vorgängerorganisation, die OUN, schon in den 30er Jahren gegen die damalige polnische Staatsmacht gekämpft hatte. Mit friedlichen Mitteln, aber auch mit Terror, den unter anderem der heute viel zitierte OUN-Führer Stepan Bandera propagierte. Mit Recht wird Bandera dabei Kollaboration mit Nazi-Deutschland vorgeworfen. Diese währte – genau wie der Hitler-Stalin-Pakt – von 1939 bis 1941. Die Nazis befreiten Bandera im September 1939 nach ihrem Einmarsch aus einem polnischen Gefängnis. Kurz nach seiner Befreiung setzte er sich im Streit mit anderen OUN-Führern, die eine Kollaboration mit den Deutschen ablehnten, durch. Er half beim Aufbau einer „Legion Ukrainischer Nationalisten“, einer aus ukrainischen Kämpfern bestehenden Truppe mit zwei Bataillonen („Nachtigall“, „Roland“), die als Teil der deutschen Wehrmacht ab 22. Juni 1941 in die Ukraine einmarschierte. Schnell, schon während der Eroberung vom Lemberg am 1. Juli 1941, wurde klar, dass diesem anrüchigen Bündnis keine Dauer beschert sein würde. Die Nazis wollten nichts wissen von dem Ziel der OUN, auf dem Gebiet der wiedereroberten Heimat einen ukrainischen Nationalstaat zu errichten. Bandera wurde noch im Juli 1941 verhaftet und war bis Herbst 1944 im KZ Sachsenhausen inhaftiert, während seine beiden Brüder in Auschwitz umkamen. Die „Legion Ukrainischer Nationalisten“ wurde aufgelöst. Viele ihrer Kämpfer, darunter Roman Schuchewytsch, schlossen sich stattdessen der UPA an und kämpften seitdem gegen die Deutschen.

Für ihre Kollaboration mit den Nazis von 1939 bis 1941 wurden Bandera, Schuchewytsch, die OUN und die UPA in der nach 1945 in der Sowjet-Ukraine über diese Zeit verbreiteten Propaganda als „Faschisten“ dargestellt. Dass Stalin sich in genau derselben Zeit ebenfalls mit Hitler verbündet hatte und sich mit ihm per Federstrich ganz Zentraleuropa aufteilte, wurde dagegen verschwiegen. Ukrainische Volkstanzgruppen waren zur Sowjetzeit wohlgelitten – Ukrainer, die Fragen nach der Vergangenheit stellten, nicht. So diente der Mythos von den „Bandera-Faschisten“ insbesondere auch als Legitimation für Repression gegen vermeintliche „ukrainische Nationalisten“, zu denen auch der Dichter Wassyl Stus gehörte, der 1985 als eines der letzten Opfer in der Kältezelle des sowjetischen Spezialgefängnisses Perm-36 umkam.

Der Holocaust durch Kugeln und die Schuldfrage

Daneben gab es nach 1941 viele Ukrainer, die sich von den Deutschen als Hilfspolizisten rekrutieren ließen. Sie halfen den Sonderkommandos der SS auch bei der Jagd auf die Juden. Bis zu 1,5 Millionen jüdische Ukrainer wurden von 1941 bis 1943 ermordet. Die Massengräber der Opfer in jenen Gruben, in denen sie damals erschossen wurden, sind neben den Orten der deutschen Vernichtungslager im heutigen Polen die größten „Killing Fields“ auf europäischem Boden. Sie sind am Rande fast jeder kleinen oder großen Stadt zu finden, das bekannteste in Babyn Jar im heutigen Stadtgebiet von Kiew. Auch Banderas kurzlebiger „Legion“ wird ein Pogrom zur Last gelegt: In den ersten Juli-Tagen 1941 wurden in Lwiw viele Juden ermordet, die Beteiligung des ukrainischen Bataillons „Nachtigall“, in der alten Bundesrepublik einst Kern der „Affäre Oberländer“, wird dabei bis heute unterschiedlich dargestellt. Daneben werden der UPA auch Massaker an ethnischen Polen vorgeworfen.

Die Rolle Banderas, der OUN, und der UPA wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit des Landes 1991 erst langsam neu bewertet. Im Januar 2010 erklärte ihn Präsident Wiktor Juschtschenko zum „Helden der Ukraine“, was sein Nachfolger Wiktor Janukowytsch wieder rückgängig machte. Seit Janukowytschs Sturz 2014 ist wieder alles ganz anders.

Die neue Erinnerungspolitik

Im rasanten Tempo verschwinden derzeit die letzten Symbole der Sowjetmacht. Schon während der Revolution 2014 wurden in Hunderten Orten Lenin-Denkmäler vom Sockel gerissen. Nicht so geordnet und auf Beschluss eines örtlichen Parlaments wie einst in Berlin 1991, sondern oft mit Stahlseilen an LKW-Anhängerkupplungen oder mit Muskelkraft, pogromartig, genauso wie einst die Bolschewiken unter Lenins Führung 1917 viele Denkmäler aus der Zarenzeit stürzten. Viele der Akteure kamen dabei nicht gerade aus der Mitte der Gesellschaft, die das Geschehen eher Zuhause vor dem Fernseher verfolgte, sondern waren wie in Charkiw Fußball-Hooligans oder wie in in Kiew oder Schitomir Angehörige der rechten Parteien Swoboda oder Pravij Sektor.

Dass den ukrainischen Normalbürger der Sturm auf die Lenins eher gleichgültig ließ, mag zum einen daran liegen, dass dort nach der kommunistischen Ideologie ähnlich wie in Polen schon lange kein Hahn mehr kräht, die Alt-Kommunisten hatten zuletzt bei den Wahlen drei Prozent. Zum anderen aber auch an gewissen sentimentalen Gefühlen, die eine heute leicht ergraute Generation einstiger Lenin-Pioniere mit dem zur Sowjetzeit als gottgleiches Vorbild der Jugend hingestellten „Großväterchen Lenin“ verbindet, ähnlich wie dieselbe Generation im Osten Deutschland mit „Teddy Thälmann“, dem an vielen Orten in der einstigen DDR bis heute Denkmäler und Straßen gewidmet sind.

Ganz offiziell findet das neue Narrativ aber seinen Ausdruck in der Umbenennung Abertausender Straßen im ganzen Land, die noch nach Sowjetfunktionären benannt waren. Und zwar im Expresstempo, anders als in Deutschland, wo es bis heute Straßen gibt, die nach „Ernst Thälmann“, „Wilhelm Pieck“ oder „Otto Grotewohl“ benannt sind. In Kiew läuft seit Sommer 2015 eine Schnell-Abstimmung per Internet, die meisten Ergebnisse liegen schon vor. Hunderte Straßen sollen noch vor Jahresende umbenannt sein. So heißt etwa die Kiewer Schtscherbakow-Straße, bisher benannt nach einem von Stalins Schlächtern, künftig nach einer bekannten Familie ukrainischer Wissenschaftler. Andere Straßen werden auch nach OUN-Männern und Exil-Ukrainern benannt, die vor den Sowjets flohen. In sehr vielen Städten gibt es bereits Straßen der „Himmelshundertschaft“. Der etwas sperrige Name erinnert an die über 100 toten Demonstranten, die die Majdan-Revolution 2014 forderte.

Tabu für allen Revisionismus scheinen dagegen die vielen Ehrenmäler für Kriegshelden zu sein. Der Sieg, ob nun im „Großen Vaterländischen Krieg“ oder im „Zweiten Weltkrieg“, scheint ein wichtiger Teil des neuen Narrativs zu sein, auf das sich ein Land einigen will, dessen Menschen damals zweifellos nicht alle jubelnd auf der Seite dieser „Sieger“ standen und denen dieser „Sieg“ die Sowjetdiktatur brachte. Steht in Kiew inzwischen kaum noch ein Denkmal für Sowjetfunktionäre, thront vor akkurat gemähtem Rasen zum Beispiel die Büste des ukrainischstämmigen Sowjet-Generals Mihailo Kirponos (1892-1941) weiterhin ehrenvoll auf ihrem Sockel. Kirponos war als Kommandeur des Kiewer Militärbezirks nach dem Einmarsch der Deutschen bei der Verteidigung der Stadt gefallen. Und in einer überdimensionalen Schale hoch über der Stadt brennt wie einst am zentralen Ehrenmal das ewige Feuer, ein beliebter Fotopunkt unter anderem für Hochzeitspaare. Auch die an diesen Gedenkorten allgegenwärtige Sowjetsymbolik ist – trotz des neuen landesweiten Verbots ihrer Verwendung für politische Zwecke – unberührt, zumindest bisher.

Augenfällig war die neue versöhnende Geschichtspolitik bei Petro Poroschenkos Gedenkveranstaltungen am 8. und 9. Mai 2015: Als Ehrengäste lud er sowohl Veteranen der Sowjetarmee als auch Veteranen der OUN/UPA und spätere Widerständler gegen die Sowjetmacht ein – und betonte, alle hätten als Patrioten für die ukrainische Heimat gekämpft. Man gedenke nun den Millionen, die im Zweiten Weltkrieg von 1939 bis 1945 starben – „an seinen Fronten, als Partisanen und im Nationalen-Befreiungs-Untergrund, in den Widerstandsbewegungen, in den Konzentrationslagern und als Zwangsarbeiter“. Bei den Gedenkfeiern saßen Veteranen der Roten Armee und der gegen sie kämpfenden UPA als Ehrengäste nebeneinander. Sie seien nun vereint nicht nur durch den heute präziseren Blick auf die Geschichte, sondern auch, so Poroschenko, durch die Tatsache, dass ihre Enkel und Urenkel „heute gemeinsam in einer Armee für den ukrainischen Staat gegen die russische Aggression kämpfen“. Sätze, die auch zeigen, wie sehr der Versuch, ein gemeinsames Narrativ der jüngeren ukrainischen Geschichte, nicht nur der des Hitler-Stalin-Pakts, zu entwickeln, von der aktuellen Krisensituation des Landes und der russischen Aggression im Osten der Ukraine überschattet sind.

Fußnoten der Geschichte:

Die Verhandlungen in Moskau zogen sich einst die halbe Nacht lang hin. So wurde der Hitler-Stalin-Pakt, obwohl auf den 23. August 1939 datiert, erst nach Mitternacht unterzeichnet, also am 24. August 1939. Genau dieser Tag ist heute der Nationalfeiertag der Ukraine. Natürlich nicht deswegen. Das Datum erinnert an den 24. August 1991. An diesem Tag beschloss das ukrainische Parlament – nach dem gescheiterten Augustputsch in Moskau – den Austritt des Landes aus der Sowjetunion und die Unabhängigkeit, die schließlich im Dezember 1991 in Kraft trat. Am selben 24. August 1991 trat in Moskau Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU zurück, die wenige Tage später verboten wurde. Ebenfalls am 24. August 1991 wurde der Marschall der Sowjetunion Sergej Achromejew in seinem Büro im Kreml tot aufgefunden. Er hatte sich erhängt.

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