Gastbeitrag von Katja Koval: Die „Russen“ in Deutschland

Für die Deutschen sind sie bis heute oft „die Russen“ – unabhängig davon, woher, warum und wann sie kamen. Dabei sind die Millionen Menschen mit einer Herkunft aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, keineswegs nur aus Russland,   die in Deutschland leben, höchst unterschiedlich. Die junge ukrainische Journalistin Katja Koval, 21,  (Екатерина Коваль) die einige Monate für Recherchen in Berlin verbrachte, hat dazu recherchiert und einige getroffen. Hier ihr Bericht, entstanden im September 2016: 

Ähnlich wie für Ausländern aus anderen europäischen Ländern schien die Bundesrepublik Deutschland auch vielen Russlanddeutsche zur Einwanderung attraktiv, mit dem Unterschied, dass sie als ethnische Deutsche bei der Einwanderung und Einbürgerung privilegiert waren. Russlanddeutsche sind die Deutschen, die vom Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stammen, aber nach 1951 nach Deutschland eingewandert sind. Zu ihnen gehören auch viele gemischt russisch-deutsche Familien.

Wolgadeutsche sind Nachkommen deutscher Einwanderer, die sich im Russischen Reich unter der Regierung Katharinas der Großen an der unteren Wolga angesiedelt hatten.  Sie bilden einen Anteil von 25 % der Gesamtzahl aller Russlanddeutschen. Seit den 1970er Jahren ermöglichte ihnen die BRD die Einreise und die Einbürgerung.

Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) kamen rund 4,5 Millionen Aussiedler zwischen 1950 und 2013 nach Deutschland. Aussiedler oder Spätaussiedler aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion sind die größten Einwanderergruppen in Deutschland. Man kann ihre Einwanderung in zwei Hauptphasen aufteilen.  Zwischen 1950 und 1990 kamen rund 1,2 Millionen Deutsche aus Polen und Osteuropa.Nach 1990 waren es überwiegend rund zwei Millionen sogenannte „Russlanddeutsche“ aus der ehemaligen Sowjetunion (Spätaussiedler). Die meisten (eine halbe Million) kamen aus der Republik Kasachstan.

Warum kommen sie nicht mehr in so einer großen Zahl? In den letzten zehn Jahren wurden strengere  Einreisebedingungen eingeführt.

Sind Russlanddeutsche gut integriert?
Es gibt Faktoren, die zur Integration von Einwanderern führen. Man kann das Folgende betonen: Sprache, Studium, Arbeit, Familie, Freunde. Den großen Teil davon haben Aussiedler schon von Anfang an. Sie bekommen automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Viele hatten sie schon vor der Einreise gute Deutschkenntnisse.

Die BAMF-Studie zeigt, dass Russlanddeutsche in Rankings auf überdurchschnittlichem Niveau sind und sogar ihre Erwerbstätigenquote die der Deutschen ohne Migrationshintergrund übertrifft.

Aber es gab und gibt ein Problem bei Aussiedlern über 50, die weder Sprachkurse noch Arbeitsmarktförderung erhielten. Im Interview mit Zeit Online sagte der Historiker Alfred Eisfeld auch, dass manche Familien höchstens 60 Prozent der Rente im Vergleich zu Einheimischen bekamen. Akademische Berufsabschlüsse wurden auch nicht anerkannt. Trotzdem erkennt man die meisten Russlanddeutschen als solche nicht mehr, meint er. Da die junge Generation schneller die deutsche Sprache gelernt hat und eine Ausbildung oder ein Studium absolviert hat, gab es für sie deutlich bessere Chancen auf Integration.

Wie politisch interessiert sind Russlanddeutsche?

Deutlich weniger als sonstige Einwanderergruppen. Wenn doch, dann unterstützen sie konservative und christliche Parteien. Außerdem sind sie politischen Einflüssen aus Russland ausgesetzt. Laut Historiker Alfred Eisfeld gibt es viele Gruppen, die seit Jahren von der russischen Botschaft gefördert werden und deren Aufgabe ist, eine positive Sicht auf die russische Gesellschaft zu erzeugen. Alfred Eisfeld: „Dagegen spricht erst mal nichts. Es gibt aber seit einiger Zeit auch die Bestrebung, mittels des Programms den russischen Landsleuten, deren Schirmherr Putin ist, die Funktion des Schutzpatrons über alle russischsprachigen Gruppen in aller Welt zu geben. Diese Gruppen werden inzwischen direkt in russische Propagandamaßnahmen eingebunden, sei es beim 70. Jahrestag des Kriegsendes oder im Kampf gegen die ukrainische Regierung“.2 Der Historiker betont im Interview, dass es auf diese Weise ein dichtes Netz von Menschen gibt, die immer notfalls aktiv werden und z. B. gegen die sogenannte Junta in Kiew losziehen können. „Richtig spürbar ist es geworden mit der Gründung der Sootetschestwenniki“, sagt Alfred Eisfeld.

Was die Familie angeht, dann sind Aussiedler stärker innerfamiliär verbunden. Freundschaften pflegen sie eher mit anderen Spätaussiedlern.

Können aber Aussiedler und Spätaussiedler schon zur Mehrheitsgesellschaft zählen? Die Ergebnisse der BAMF-Studie zeigen, dass junge Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken Schwierigkeiten haben, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen. Trotz eines deutschen Passes, ist es für sie noch ein Problem, sich als vollwertige deutsche Staatsbürger angenommen zu fühlen. Die Untersuchung zeigt aber auch, dass junge Russlanddeutsche dennoch in Deutschland bleiben möchten.
Eine Spätaussiedlerin hat mir ihre Erfahrungen mitgeteilt. Sie würde aber gerne anonym bleiben. 1998 musste sie anfangen, Deutsch zu lernen, da sie als 10-jährige mit ihren Eltern und zwei Brüdern aus Bischkek, Kirgistan, nach Berlin umgesiedelt ist. Es ging ihr da fast wie ihrer Großmutter, die als  10-jährige mit Russisch anfangen musste, als sie aus den Siedlungen an der Wolga, wo nur Deutsch gesprochen wird, nach Sibirien deportiert wurde, wo nur Russisch gesprochen wurde.

Die Familie meiner Gesprächspartnerin wurde in Berlin erst zum Spätaussiedlerheim geschickt, in Erwartung der Anmeldung und der Wohnung, die vom Finanzamt finanziert wurde, bis ihre Eltern Arbeit gefunden haben. Sie hatten, im Vergleich zu heutigen Einwanderern keine finanziellen Schwierigkeiten, meinte sie. Alle Familienmitglieder waren aber verschieden betroffen. Die Eltern hatten ein halbes Jahr den Sprachkurs, die Mutter hatte aber schon ungefähr das B1-Niveau, denn in ihrer Kindheit sprachen ihre Eltern Deutsch. Bei der Arbeitssuche half die Arbeitsvermittlung. Die Ausbldung ihrer Mutter als Krankenschwester wurde anerkannt, zuvor hat sie ein Praktikum am Krankenhaus gemacht und die Prüfung bestanden. Der Vater hat angefangen, in einem Fahrradladen zu arbeiten.

Meine Gesprächspartnerin hatte wie gesagt zwei Brüder. Der ältere war 20 Jahre alt, als er hierhergekommen ist. In Bischkek studierte er im 2. Studienjahr an der Fachhochschule, was in Deutschland nicht anerkannt wurde, deswegen musste er alles auf Deutsch nochmal lernen und das Abitur machen.  Erst dann ging er auf die Uni. Beim jüngeren Bruder ging alles leichter, sagt die Aussiedlerin, da er als 15-jähriger direkt auf eine deutsche Schule wechseln konnte. Was meine Gesprächspartnerin angeht, hat sie in Bischkek die 3. Klasse abgeschlossen. In Berlin wurde sie einer Fördergruppe für Kinder der Spätaussiedler zugeteilt, die noch kein Deutsch konnten und hat dort ein halbes Jahr verbracht. Kinder konnten dort bis zu einem Jahr bleiben. Dann ging sie in die normale 4. Klasse in die Grundschule, dann ins Gymnasium, dann machte sie ihr Abitur und ging auf die Universität. Also verlief bei ihr die Integrationsphase noch harmonischer.

Am Anfang schloss sie meistens Freundschaften mit Spätaussiedlern. In der Förderklasse waren auch Kinder aus Albanien, Kasachstan und Vietnam, sie redeten untereinander meistens Deutsch. Mit der Zeit empfand sie  Russisch nicht mehr als ihre Muttersprache, weil  alles in der Schule und überall auf Deutsch war. Zu Hause sprachen ihre Eltern sie auf Russisch an, sie antwortete aber auf Deutsch. „Ich möchte nicht“, – sagt sie. Obwohl sie nichts gegen ihre Herkunft hat, sagte meine Gesprächspartnerin, dass sie manchmal nichts davon sagen wolle, weil das Klischees hervorbringe.

Bei nicht-Russlanddeutschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die im letzten Jahrzehnt nach Deutschland zum Studium kamen, sind die Erfahrungen anders. Man muss den gesamten Visumsprozess schaffen, um reinzudürfen. Die 32jährige Ukrainerin Tatjana, die in Berlin lebt,  empfand diese teilweise als reine Schikane ukrainischen Staatsbürgern gegenüber. Vor 10 Jahren hat sich die Germanistin aus der ukrainischen Oblast-Stadt Schitomir entschieden, in Deutschland ein weiteres Studium zu beginnen. „Es gab einen hohen bürokratischen Aufwand, insbesondere die vielen Nachweise, die zu erbringen waren, die auf mich den Eindruck machten, dass man uns generell misstraut“,  sagt Tatjana.

Ukrainische Studenten in Deutschland seien weitgehend auf sich selbst gestellt, meint Tatjana. Insbesondere betrifft das auch die finanziellen Fragen. Sie bleiben für Ukrainer eines des größten Probleme. Beim Visumantrag für den Aufenthalt zu Studienzwecken muss man 8.700 Euro für ein Jahr auf einem Sperrkonto vorweisen, zum Nachweis, dass man genügend Geld hat. Das durchschnittliche monatliche Einkommen ist aber in der Ukraine ca. 200 Euro. Es gibt aber auch  andere Varianten, wenn z. B. die Eltern entsprechende Einkommens- und Vermögensnachweise vorlegen oder jemand mit Wohnsitz in Deutschland sich gegenüber der Ausländerbehörde verpflichtet, die Kosten zu übernehmen.

Wer das geschafft hat, für den beginnt ein interessanter Lebensabschnitt. Aus ihrer eigenen Integrationsphase hat mir Tatjana einiges mitgeteilt, obwohl sie den Begriff selbst nicht sehr mag. „Wenn du dich integrieren musst, dann bist du abgegrenzt, das heißt, du gehörst nicht  hierher. Mir reicht es, an der Gesellschaft teilzuhaben, deswegen muss ich mich ja nicht vollständig anpassen. Ich komme doch nicht von einem anderen Planeten“. Für das Wichtigste hält sie die Sprache. Wenn man sie schon beherrscht, dann versteht man sich schon. Mit der gesprochenen Sprache ging es bei Tatjana relativ schnell, da sie über die theoretischen Grundlagen des Deutschen verfügte. Um sich in ihrem neuen Umfeld einzugewöhnen, brauchte sie ein paar Monate. Sie beschreibt aber auch einen anderen Weg: „Es gibt Menschen, die auch nach 20 Jahren in Deutschland innerhalb der eigenen Community bleiben und keinen Kontakt mit Deutschen pflegen möchten/können, aus verschiedenen Gründen. Bei mir war das umgekehrt“.

Was die Zukunft angeht, dann findet Tatjana Flexibilität ganz wichtig. Entweder in Deutschland, oder in der Ukraine, ihr gefällt es so, zwischen zwei Ländern zu bleiben. „Deutschland ist mein Zuhause geworden, hier habe ich meinen Mann kennengelernt, hier wurde mein Kind geboren. Die Ukraine aber ist und bleibt meine Heimat. Meine Familie und ich können es uns leisten, in beiden Ländern zu leben, in Berlin und in Kiew“, – meint sie.

Zwei Beispiele von zwei Menschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen – aus zwei sehr unterschiedlichen  Gründen und mit zwei sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensgeschichten. Daneben gibt es noch eine Vielzahl anderer – weswegen man weder die Gruppe der Russen noch die Gruppe der Russlanddeutschen oder die Gruppe der Ukrainer, die in Deutschland leben, als in sich homogene Gruppe betrachten sollte.

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