Der Tag, an dem Auschwitz befreit wurde

Autor: Gerald Praschl, erschienen in SUPERillu Heft 6/2015.

Es war am 27. Januar 1945 um drei Uhr nachmittags, als ein Stoßtrupp der „60. Armee“ der „1.Ukrainischen Front“ die einstige Kaserne im polnischen Oświęcim erreichte. Kommandant der Einheit war ein ukrainischer Jude: Anatoly Shapiro aus Charkiw, 32 Jahre alt, im Zivilberuf Ingenieur. Nachdem seine Männer unter großen Verlusten eine letzte Wehrmachtseinheit niedergekämpft hatten, öffnete Shapiro das Tor zu dem Lager „Auschwitz 1“: „Das erste, was ich sah, waren Menschen, die im Schnee standen. Sie waren so schwach, dass sie nicht einmal ihre Köpfe zu uns drehen konnten. Wir sprachen sie an: ‚Die Rote Armee ist gekommen, um euch zu befreien!‘ Sie haben uns erst nicht geglaubt …“ Am nächsten Tag erreichten die Sowjets auch das nahe  Lager Auschwitz-Birkenau, das eigentliche Vernichtungslager. „Gefangene in gestreifter Kleidung kamen auf uns zu. Sie waren nur noch Skelette …“, erinnert sich einer der Soldaten, Jakow Winnitschenko. Erst langsam wird den Befreiern die ganze grausame Wahrheit offenbar.

Neben zahllosen Toten stoßen sie auf 7 000 Überlebende. In den Wochen danach finden sie 1,2 Millionen Kleidungsstücke, 43 000 Paar Schuhe, Berge von Zahnbürsten und Brillen. Und sieben Tonnen Haare, die man den Opfern vor ihrer Ermordung abschnitt. Die SS verkaufte diese Haare an die Textilindustrie. Wertsachen und sogar das Zahngold der Opfer wurden ebenfalls von der SS gewinnbringend verwertet. Der Holocaust war auch ein Raubmord.

Andere Spuren wurden von den Tätern noch verwischt: Sie sprengten die Gaskammern, zündeten die Baracken an, in denen Millionen weiterer Kleidungsstücke lagerten, stumme Zeugen des Massenmords. Bis heute ist deshalb unklar, wie viele Menschen hier wirklich ermordet wurden. Die meisten Forscher gehen von 900 000 bis 1,1 Millionen aus. Dabei war Auschwitz nur ein Teil der Nazi-Mordmaschinerie. Es gab noch weitere Vernichtungslager: Treblinka (1 Million Opfer), Belzec (430 000 Opfer), Sobibor (250 000) und Kulmhof (200 000). Dort wurden die Opfer, Juden, aber auch Roma und sowjetische Kriegsgefangene, direkt nach ihrer Ankunft ausnahmslos ermordet. Außer einigen Dutzend Menschen, die fliehen konnten, gab es dort keine Überlebenden. Auch in Auschwitz wurden die meisten Opfer direkt von den Zügen, mit denen man sie aus ganz Europa hierher deportierte, in die Gaskammern gebracht. Daneben „selektierte“ die SS aber auch „Arbeitsfähige“ aus, die Zwangsarbeit leisten muss­ten, unter anderem in einem örtlichen Zweigbetrieb der Schkopauer Buna-Werke. Deshalb gab es in Auschwitz eine kleine Überlebenschance, auch wenn die Zwangsarbeiter meist nur zwei oder drei Monate durchstanden.

Anders als die Konzentrationslager wie Dachau oder Buchenwald errichteten die Nazis die Vernichtungslager im Geheimen. Und nicht auf deutschem Gebiet, sondern im 1939 besetzten Polen. Auch wenn jeder Deutsche ahnen konnte, dass die Juden, die „abgeholt“ wurden, nichts Gutes erwarten würde, wollten die Nazis die Zahl der Mitwisser damit klein halten. In den nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion 1941 eroberten Gebieten der Ukraine, Weißrusslands und Russlands dagegen betrieben sie ihr Morden völlig offen. Dort machten Sonderkommandos Jagd auf Juden. Meist wurden sie am Rande ihrer Städte und Dörfer zu Hunderttausenden erschossen, ein „Holocaust durch Kugeln“, von dem dort heute zahllose, meist verwilderte Massengräber zeugen.

Bei den Nürnberger Prozessen sowie von polnischen und sowjetischen Gerichten wurden in den ersten Nachkriegsjahren mehrere SS-Täter zum Tode verurteilt und hingerichtet – wie der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß oder SS-Mann Paul Blobel. Der Überlebende Simon Wiesenthal machte auf eigene Faust Jagd auf die Täter und half unter anderem bei der Verhaftung von Adolf Eichmann 1960 in Argentinien durch die Israelis. In der DDR ließ das wegen seiner Willkür umstrittene „Waldheimer“ Sondergericht 1950 unter anderem Ernst Kendzia, mitverantwortlich für die Morde von Kulmhof, hinrichten. 1966 wurde in Leipzig der Auschwitz-Lagerarzt Horst Fischer exekutiert. In der Bundesrepublik passierte lange kaum etwas. Erst in den 60er-Jahren brachte ein jüdischstämmiger Staatsanwalt, Fritz Bauer, in Frankfurt rund 20 Auschwitz-Täter vor Gericht. Sie wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die meisten Holocaust-Täter, Zehntausende, blieben aber unbehelligt. Nicht nur, weil sie nicht ermittelt werden konnten, sondern auch weil manchmal selbst NS-belastete Juristen ihnen „Befehlsnotstand“ oder gar „ideologische Verblendung“ zugute hielten. Erst in den letzten Jahrzehnten änderte sich diese Rechtsauffassung. So kam es noch zu einigen späten Prozessen. 2011 wurde ein SS-Helfer in Sobibor, Iwan Demjanjuk, verurteilt. 2013 der SS-Mann Hans Lipschis verhaftet, der beteuerte, in Auschwitz „nur Koch“ gewesen zu sein. Einen Prozess gab es nicht mehr, wegen Demenz wurde er wieder entlassen.