General Jaruzelski: Ich bitte um Verzeihung

Zu Besuch bei dem ehemaligen polnischen Machthaber Wojciech Jaruzelski und seiner Frau Barbara in ihrem Haus in Warschau 2010, Foto NIkola Kuzmanic
Zu Besuch bei dem ehemaligen polnischen Machthaber Wojciech Jaruzelski und seiner Frau Barbara in ihrem Haus in Warschau 2010, Foto Nikola Kuzmanic

Einst hatte er die Macht, heute ist er Rentner. Die SUPERillu-Reporter Gerald Praschl und Andrzej Stach besuchten General Jaruzelski und seine Frau Barbara in ihrem Haus in Warschau. Im Interview mit SUPERillu-Redakteur Gerald Praschl  im September 2010 bedauert der einstige polnische Staatschef Wojciech Jaruzelski die Folgen des Kriegsrechts, das er 1981 in seinem Land ausrief, und erklärt, wieso er den Kommunismus heute für überholt hält.  Text und – auszugsweise  – das unten stehende Interview erschienen in SUPERillu Heft 42/2010, hier als PDF zum Download:  Jaruzelski
Als er auf den Fernsehbildschirmen auftauchte, war das ein Schock für die Welt: Ein grimmiger Mann in Uniform, die Augen versteckt hinter einer dunklen Sonnenbrille. Gerade hat Armeegeneral Wojciech Jaruzelski in seinem Land das Kriegsrecht ausgerufen und die Macht übernommen.  Als Erstes lässt er Tausende von Oppositionellen der Gewerkschaft »Solidarnosc« verhaften und in Internierungslager bringen.   Das war am 13. Dezember 1981. Ich war damals 13 Jahre alt und erinnere mich noch gut an diesen polnischen Militär-Machthaber in den Abendnachrichten, einen ziemlich bösen Finsterling.

Die Begegnung. Jetzt sitze ich diesem Mann gegenüber.  Auf der Couch in seinem Wohnzimmer in Warschau. Seine bezaubernde Frau Barbara schenkt uns Tee ein. Er kramt aus einer Wohnzimmerschublade einen ganzen Packen alter Fotos hervor.  „Schauen Sie mal, hier bin ich mit Fidel Castro drauf, hier mit Tito,  hier mit Breschnew und hier mit Honecker.“ Dazwischen Fotos von Familienausflügen mit seiner Tochter Monika (48) oder seinem einzigen, heute achtjährigen Enkel Gustaw. Gerne würde er einfach nur noch der Opa für den kleinen Gustaw sein, sagt er mir. „Mit Politik wollte ich mich eigentlich nie wieder beschäftigen.“ Aber die Vergangenheit lässt ihn nicht los. Seit 2007 steht er vor Gericht, angeklagt wegen »Kommunistischer Verbrechen«.

Jaruzelski fühlt sich zu Unrecht verfolgt. „Es hat mich sehr geschmerzt, dass wir damals Gewalt anwenden mussten. Aber wir wollten mit dem Kriegsrecht eine Katastrophe verhindern“, sagt er. „Es drohte jeden Tag der Ausbruch eines Bürgerkriegs. Hätten wir damals die Lage nicht stabilisiert, wäre es früher oder später zur Intervention sowjetischer, tschechischer und ostdeutscher Truppen in Polen gekommen.“ Nicht nur die Sowjetarmee stand 1981 an der Grenze zum Einmarsch in Polen bereit, um dort das Machtmonopol der Kommunisten zu retten. Auch DDR-Staatschef Erich Honecker ließ die NVA damals an der Grenze üben. Dass die SED-Führung  nur 42 Jahre nach Hitlers Überfall auf Polen kein moralisches Problem damit gehabt hätte, deutsche Truppen wieder dort einmarschieren zu lassen, gilt heute als erwiesen. „Honecker war sich bewusst, dass es ohne Polen als Ostblock-Land auch die DDR nicht mehr lange gegeben hätte. Das war für ihn eine Frage von Leben und Tod“, erklärt mir Jaruzelski dazu.

Nachdem er damals das Kriegsrecht ausgerufen und die Opposition rund um Solidarnosc-Chef Lech Walesa mundtot gemacht hatte, war ein Einmarsch nicht mehr nötig. Sieben Jahre lang hatte Jaruzelski anschließend die Macht im Lande. Harte Jahre für Polen. Das Land musste seine Zahlungsunfähigkeit erklären, die Wirtschaft brach weitgehend zusammen. Die Versorgungslage war dramatisch schlecht, wichtige Lebensmittel gab es nur noch auf Bezugsschein und streng rationiert.  1988/1989 schließlich war Polen das erste Land, in dem die »Wende« , die friedliche Revolution in Mittelosteuropa, losging. Anders als die meisten kommunistischen Staatschefs hat Jaruzelski die Macht damals freiwillig abgegeben. Im Februar 1989 setzte er sich mit der Opposition an einen »Runden Tisch«, vier Monate später gab es die ersten freien Wahlen. Als dann im November 1989 die Berliner Mauer fiel, hatte Polen bereits einen bürgerlichen Ministerpräsidenten, den Solidarnosc-Mitgründer Tadeusz Mazowiecki.

Jaruzelski nimmt deshalb für sich in Anspruch, der »polnische Gorbatschow« zu sein. Viele einstige Oppositionelle, darunter auch Solidarnosc-Gründer Lech Walesa, glauben ihm diese Version und haben ihm verziehen, obwohl er die meisten von ihnen 1981 hat einsperren lassen.  Dass es 2007, 18 Jahre nach dem Mauerfall,  zu dieser späten Anklage  kam, lag vor allem daran, dass kurz zuvor mit den konservativen Kaczynski-Zwillingen zwei einstige Oppositionelle an die Macht kamen, die ihm nicht verziehen hatten. So kam es, dass nun ein Warschauer Gericht darüber entscheiden soll, wer die Dinge richtig sieht. Wobei niemand damit rechnet, dass der 87-Jährige im Falle eines Urteils tatsächlich noch hinter Gitter muss. Vielmehr geht es vor Gericht eher darum, was zukünftig im Geschichtsbuch stehen soll.

Für seinen Schritt, das Kriegsrecht ausgerufen zu haben, will Jaruzelski sich nicht entschuldigen. Diesbezüglich fühlt er sich bis heute im Recht. Aber er sagt mir auch:  „Ich gestehe, dass das Kriegsrecht ein Übel war. Es gab Internierungen, Repressalien. Das war schlimm und vielen Menschen ist hier großes Unrecht geschehen. Ich entschuldige mich. Das tut mir leid. Ich bitte um Verzeihung.“
Offene Worte, die mich berühren. Es wäre schön gewesen, wenn wir in Deutschland so etwas auch einmal von Leuten wie Honecker oder Krenz gehört hätten. Oder von den Stasi-Generälen. In 20 Jahren als Reporter bei SUPERillu habe ich viele dieser einstigen Spitzenkader von SED und Staatssicherheitsdienst getroffen. Und mit manchen lange diskutiert. Bei den meisten hatte ich den Eindruck, dass sie im Stillen durchaus nachdenklich sind. Sich aber sehr schwer tun,  öffentlich für etwas um Verzeihung zu bitten. Oder gar zuzugeben, dass es sogar ihnen, den einst Privilegierten, heute mit (West-)Rente, Meinungs- und Reisefreiheit viel besser geht als damals.

Als Wendehals fühlt Jaruzelski sich nicht. Er erzählt mir, wie er in seiner Jugend zum Kommunisten wurde, obwohl er kein armes Arbeiterkind, sondern der älteste Sohn eines reichen Gutsbesitzers war. „Ich kam zu dem Schluss, dass das System, von dem ich abstamme, ungerecht ist. Meinem Vater haben alte Frauen die Hand geküsst, um ihn um Hilfe anzubetteln. Und selbst vor mir damals 15-jährigem Rotzlöffel haben sie sich verbeugt, weil ich der junge Herr war. Die Armut der Landarbeiter, von denen oft vier Familien in einer Baracke lebten, hat mich schockiert. Und sie hat eine Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit erzeugt, von der ich glaubte, dass der Kommunismus  oder besser: der real existierende Sozialismus sie am besten herstellen könnte.“

Heute dagegen sehne er sich nicht mehr danach: „Der alte Kommunismus hat keine Daseinsberechtigung mehr. Ich will aber nicht mit allem brechen: Es gab auch Dinge, bei denen der Kommunismus eine positive Rolle spielte. Die Revolution in Russland trug dazu bei, dass die Kapitalisten im Westen begannen, sich Gedanken über den Lebensstandard der einfachen Leute zu machen – weil sie Angst vor einer Revolution hatten. So hat der Kommunismus wenigstens indirekt den Arbeitern geholfen – denen im Westen.“

Das Interview: General Wojciech Jaruzelski im Mai 2010 in Warschau im Gespräch mit SUPERillu-Chefreporter Gerald Praschl und Andrzej Stach:

 

Der Fall der Mauer und das Ende der deutschen und europäischen Teilung ist schon 20 Jahre her. Wie ist Ihre Bilanz?
Die Bilanz ist positiv. Die Europäische Union ist Wirklichkeit geworden. In diesem Einigungsprozess von Europa hat Deutschland eine wichtige Rolle gespielt. Ich habe aufmerksam beobachtet, was während der Wiedervereinigung ablief und gesehen, wie schwer der neue Anfang nach 1990 nicht nur für uns Polen, sondern auch für die Deutschen war. Und bis heute ist es nicht einfach. Aber dass mit Angela Merkel eine Ostdeutsche sogar Kanzlerin wurde, zeigt doch alleine schon, dass der Prozess des Zusammenwachsens so weit fortgeschritten ist, dass man sich kaum vorstellen kann, wie das hätte anders laufen sollen. Und dass so viel nicht falsch gewesen sein kann.

Sie waren als Staatschef von Polen einer der wichtigsten Ostblock-Politiker. Wie denken Sie denn heute über den Sozialismus?
Die Idee des Kommunismus wurde nicht an der Wolga, sondern am Rhein geboren. Könnte es etwas Edleres geben als soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, wie die Beseitigung der Arbeitslosigkeit? Und dass jeder in einer sozialen Gesellschaft seinen Platz und seine Beschäftigung hat? Dass sind universelle Werte, die zu jeder Zeit gelten. Aber bei der Verwirklichung wurde die Idee degeneriert. Das führte zu einer Beschränkung der Freiheit der Menschen und vielen anderen Übeln. Wenn sie mich nach einem Glaubensbekenntnis fragen, dann kann man sagen, dass ich an die Werte, die man kommunistisch oder sozialistisch nennt, glaube. Aber ich lehne diese Auswüchse ab. Ich habe dazu beigetragen, dass man das alles bei uns verworfen hat. Wir in Polen haben weit vor dem Fall der Mauer mit den Reformen angefangen. Sogar Gorbatschow sagte, dass er bei seinen Reformen unsere Erfahrungen in Polen nutzte. Es spielt natürlich heute keine Rolle, wer der erste oder zweite war, sondern vor allem, dass wir alle unseren Weg gefunden haben, auch wenn der Weg nicht frei von Problemen ist. Ich sehne mich überhaupt nicht mehr nach dem Sozialismus, der existiert hat. Ich habe dazu beigetragen, dass dieses System in die Vergangenheit gehört. Und ich bin stolz darauf.

Aber Sie haben doch damals, 1981 sogar das Kriegsrecht ausrufen lassen und über ein Jahr lang zehntausende Oppositionelle interniert, um die demokratische Opposition der Solidarnosc zu stoppen?
Ich habe alles, was in meiner Macht stand, unternommen, um die Ausrufung des Kriegszustandes zu verhindern. Es hat mich sehr geschmerzt, dass wir Gewalt anwenden mussten. Aber als wir 1981 mit dem Kriegsrecht den Status Quo verteidigten, wollten wir nur eine Katastrophe verhindern, einen Dritten Weltkrieg. In der Solidarnosc, die damals schon sehr mächtig war, gaben immer mehr die radikalen Kräfte den Ton an. Lech Walesa, den ich als Mensch heute sehr schätze, gehörte zu den Gemäßigten, aber auf den hat schon damals kaum einer gehört. Ebenso wenig wie auf die katholische Kirche, die ebenfalls versucht hat, die radikalen Oppositionellen zu mäßigen. Auch die polnischen Bischöfe warnten damals öffentlich vor einem Bruderkampf. Es drohte jeden Tag des Ausbruch eines Bürgerkriegs. Ein Bürgerkrieg, der nicht nur Polen, sondern den ganzen Ostblock bedroht hätte und  einen Dritten Weltkrieg hätte verursachen können.  Einen Abfall Polens vom Warschauer Pakt hätten damals sowohl die Ost- als auch die Westmächte als Störung des Gleichgewichts empfunden, schon wegen der geographischen Lage Polens und seiner Größe mit fast 40 Millionen Einwohner. Wie gefährlich so eine Störung des Gleichgewichts war, hatte man ja erlebt. Zuletzt bei der Kubakrise, die Chruschtschow mit der Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba, im Machtbereich der Amerikaner, ausgelöst hatte. Da gab es viel Druck auf uns. Hätten wir damals die Stabilisierung der Lage nicht gesichert und die Anarchisierungsprozesse im Staat und in der Wirtschaft nicht gebremst, wäre es früher oder später zur Intervention sowjetischer, tschechischer und auch ostdeutscher Truppen in Polen gekommen. Die Zeichen waren unübersehbar. An der sowjetischen Grenze standen bereits hunderte Lokomotiven und tausende Waggons bereit. Direkt an unseren Grenzen veranstalteten die »Bruderländer« großangelegte Militärübungen. Die Sowjets. Die Tschechoslowaken. Und auch die Ostdeutschen. Man wusste sofort, dass da etwas passiert und dass Interventionen mit solchen Vorbereitungen beginnen. Als wir fragten, was denn der Grund sei für diese Ansammlung von Zügen, gab es nur ausweichende Antworten, es seien technischen Schwierigkeiten aufgetreten. Wir waren aber nicht so naiv, auch wenn wir erst im Nachhinein zuverlässig erfuhren, dass auch in der DDR die Vorbereitungen für einen Einmarsch nach Polen weit fortgeschritten waren und Honecker zu den eifrigsten Verfechtern dieser militärischen Lösung gehörte. So wie damals 1968, beim Einmarsch in die Tschechoslowakei, DDR-Parteichef Ulbricht und unser polnischer Parteichef Gomulka. Honecker war besonders radikal bei der Beurteilung der Lage in Polen. Er war sich dessen bewusst, dass ohne Polen als Ostblock-Land es auch die DDR nicht mehr lange gegeben hätte. Das war für ihn eine Frage von Leben und Tod. Seine Truppen standen bereit, in Polen einzumarschieren. Das belegen auch manche heute bekannten Dokumente.

Bereuen Sie heute, dass Sie damals so viele Oppositionelle verfolgt und eingesperrt haben?
Solidarnosc hat große Verdienste. Aber es war auch keineswegs ein Zehn-Millionen-Heer von Engeln. Ich gestehe: Der Kriegszustand war ein Übel. Ich gebe zu: Das Kriegsrecht war ein Übel. Es gab Internierungen, Verhaftungen, Repressalien. Der Sicherheitsapparat und auch ein Teil der Partei hat sich ausgetobt an ihren Gegnern und Rache geübt für  erlittene Demütigungen. Das war  schlimm und vielen Menschen ist hier großes Unrecht geschehen. Ich entschuldige mich, ich bedauere es. Das tut mir leid. Ich bitte dafür um Verzeihung. Aber nicht dafür, dass ich das Kriegsrecht eingeführt habe. Das war zur Erhaltung von Polen notwendig. Ich habe damals auch öffentlich gesagt, dass wir militärisch und administrativ gewonnnen, aber politisch verloren haben. Wir konnten keine überzeugende Sprache finden, auch die Partei nicht, um die Menschen zu erreichen. Solidarnosc dagegen hat die Menschen mitgerissen, mit ihrer Kritik am System. Eine Kritik, die generell richtig war, die aber auch nicht wenig Demagogie und Populismus enthielten, die die Wirtschaft ruinierten. Dies bekamen auch unsere Nachbarn zu spüren, besonders die DDR wegen der ausbleibenden Lieferungen der polnischen Kohle.

Auch wenn Honecker zusammen mit den Sowjets damals in Polen einmarschieren wollte: Acht Jahre später, 1989, waren Sie als Gast mit dabei, als die DDR im Oktober 1989 ihren vierzigsten und letzten Jahrestag feierte…

Ich erinnere mich noch gut daran. Da gab es ein paar feierliche Reden. Hauptredner war Honecker. – Er sprach nur von Erfolgen und Errungenschaften. Gorbatschow meinte zu mir nach der Rede: Das war ein Schuss ins Leere. Es wisse doch jeder, dass tiefgreifende Reformen nötig sind. Damals dachten wir natürlich nicht an einen kompletten Wechsel der Gesellschaftsordnung. Aber dass sich die Menschen nach Demokratie und Meinungsfreiheit sehnten, war uns klar. An diesem Punkt waren Honecker und seine alte Garde wie Stasi-Chef Mielke und Ministerpräsident Stoph wie zubetoniert. Die wollten nichts verändern. Im Gegenteil:  Honecker hat uns auch noch ständig belehrt, nach dem Motto: „Bei uns in der DDR lebt es sich besser als bei euch, also haben wir recht.“ Es stimmte natürlich, dass es in der DDR noch ein wenig besser lief als bei uns. Aber das war ja auch Deutschland, das wirtschaftlich schon immerm besser da stand als seine östlichen Nachbarn. Ob mit Sozialismus oder ohne.

Das klingt nach einer sehr kompromisslosen Abrechnung mit Honeckers DDR..
Ich will nicht in die Rolle des Rezensenten versetzt werden, der die ehemalige DDR beurteilen soll. Der Tote kann sich ja nicht mehr wehren. Wir haben die DDR auf zweierlei Art und Weise gesehen. Die eine Seite war die Verknöcherung, der Dogmatismus. Auf der anderen Seite haben wir auch gesehen, dass die DDR besser funktioniert, wirtschaftlich und zivilisatorisch besser entwickelt ist als unser polnischer Staat. Und wir haben auch sehr hoch geschätzt, dass die DDR, anders als die Bundesrepublik, es bereits 1950 auf sich genommen, im Görlitzer Abkommen die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hat, was der SED-Führung sicher einen Verlust an Sympathie im deutschen Volk gebracht hat, das darin vor allem einen Verzicht auf große deutsche Gebiete sah, die so lange zu Deutschland gehörten. Die DDR hat auch den Jugendaustausch zwischen unseren Ländern sehr gefördert. Jahr für Jahr waren 300000 junge  Menschen aus Polen und der DDR ins jeweils andere Land gereist. Da sagen natürlich wieder welche: Das war Indoktrinierung. Teilweise war das bestimmt so. Aber zumindest lernten diese jungen Leute das andere Land kennen, die Sprache, die Kultur. Das war eine wichtige Sache, die bis heute Früchte trägt. Meine Frau kann darüber noch mehr sagen, sie war jahrzehntelang Germanistin an der Universität und hat sich dort ebenfalls um den deutsch-polnischen Austausch bemüht. Wir Polen haben dabei zum ersten Mal wieder viele Deutsche kennengelernt, die uns nicht, wie damals im Zweiten Weltkrieg, mit einer Maschinenpistole gegenüberstanden. Sondern als unsere Brüder und Freunde. Honecker persönlich? Er war ein Betonkopf. Aber auf der anderen Seite saß er zehn Jahre im Nazi-Gefängnis. Das hat uns auch verbunden. Es war unsere gemeinsame Idee, im  Berliner Friedrichshain ein Denkmal zu errichten, für die  polnischen Soldaten, die im Krieg gegen die Faschisten kämpften, so wie ich, und für die deutschen Antifaschisten, so wie er. »Für eure und unsere Freiheit« steht da drauf, in deutsch und polnisch. Das Denkmal steht bis heute, aber vielleicht pinkeln ja jetzt nur noch die Hunde dran. Ich möchte auch hinzufügen, das die Zusammenarbeit unserer Armeen, was mich als langjährigen Chef der polnischen Armee und Verteidigungsminister natürlich besonders beschäftigt hat, sehr gut war.. Ich schätze zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem damaligen DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. Das war ein Mensch, der den spanischen Bürgerkrieg hinter sich hatte. Was ihm natürlich ein großes Gewicht und auch in meinen Augen viel Ansehen verlieh.  Ich erinnere mich da an eine ganz besondere Begebenheit. Es war üblich, dass Offiziere aller Armeen des Warschauer Pakts, die sich besonders qualifiziert hatten, sich ausschließlich an der Militärakademie nach Moskau weiter qualifizieren konnten. Dass war aber ein sehr eingleisiger Austausch. Unsere Ländern hatten natürlich auch eigene Militärakademien. Ich habe mich damals in Moskau bemüht, dass es auch möglich sein müsste, dass zum Beispiel auch einmal sowjetische Offiziere auf Militärakademien in den Bruderländern wie Polen weitergebildet würden. Da führte kein Weg rein, das wurde von Moskau völlig abgeblockt. So hat es mich umso mehr gefreut, dass DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann und ich einen bilateralen Austausch vereinbaren konnten. Künftig, seit Anfang der 80er Jahre, gab es auch ostdeutsche Offiziere, die an unserer Warschauer Militärakademie ausgebildet wurden. Und umgekehrt polnische Offiziere, die in die DDR zur Weiterbildung gingen. Und nicht nach Moskau. Diese positive Erfahrung bewirkte, dass die sowjetische Armee aber auch die anderen Armeen des Warschauer Paktes ihre Offiziere zu den Militärakademien in anderen Ländern des Paktes im Rahmen eines Austausches schickten.

18 Jahre nach der Wende, 2007 wurden Sie wegen »Kommunistischer Verbrechen angeklagt und stehen seitdem in Warschau vor Gericht. Wie sieht denn ihr Leben heute aus?

Ich bin nach der Wende mit einer großen Erleichterung in Pension gegangen, übrigens auf eigene Initiative. Nach dem Runden Tisch und nach den Wahlen 1989 verkündete ich offiziell, dass ich nicht Präsident von Polen werden will. Dazu hat mich dann aber der damalige US-Präsident George Bush senior doch überredet. Er meinte zu mir, dass ich in dieser schwierigen Zeit einen flexiblen Übergang gewährleisten  müsse. Dass ist schon eine besondere Note der Geschichte, dass ein US-Präsident einen kommunistischen Staatschef davon überzeugen muss, noch ein wenig länger im Amt zu bleiben. Es ging ihm darum, dass dieser Machtübergang reibungslos verlaufe. Dasselbe meinte übrigens Gorbatschow zu mir. Ich war dann anderthalb Jahre Staatspräsident und dachte, als ich endlich in Rente ging, ganz naiv, ich hätte jetzt endlich Zeit, ins Theater zu gehen, ins Kino, Bücher zu lesen, mich um meine Familie mehr zu kümmern, die immer zu kurz kam. Stattdessen muss ich mich seitdem mit Staatsanwälten und Gerichten beschäftigen. Wenn sie jetzt auf mich einschlagen, will man damit doch auch das Leben und die Leistungen von vielen anderen zertreten, die in der Zeit des Kommunismus gelebt und gearbeitet haben. Die in der Armee gedient haben, in Behörden und Schulen tätig waren, gute Arbeiter in den Betrieben waren. Millionen von Menschen. Wenn ich vor Gericht auftrete, betone ich immer wieder: Ich verteidige nicht mich selbst.

Viele Polen hatten nach dem Mauerfall Angst vor einem wiedervereinten Deutschland. Sie waren damals der Staatspräsident. Wie haben Sie das gesehen?
Ich war lange Zeit ein Gegner der deutschen Wiedervereinigung. Weil ich befürchtete, dass es nach der Einheit schwierig sein würde, die Zustimmung des neuen Deutschland zur polnischen Westgrenze durchzusetzen. Ich habe das auch bei vielen Gesprächen mit Ost- und natürlich vor allem westdeutschen Politikern so gesagt, wie zu Helmut Kohl, Präsident Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und anderen. Ich habe ihnen erzählt, dass wir das sehr sensibel sehen. Alle haben uns beruhigt, es sei nur eine Formalität, eine Formsache, dass auch das vereinte Deutschland die Oder-Neiße-Grenze anerkenne. Und dass das sofort nach der Wiedervereinigung erfolge. So wie ich haben auch manche West-Politiker gedacht. Zum Beispiel die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die ich zuletzt im Juni 1989 traf. Sie bat mich zu einem vertraulichen Gespräch. Und meinte zu mir: „Ihr müsst alles unternehmen, dass die deutsche Wiedervereinigung nicht zustande kommt.“ Ich war überrascht, dass sie uns Polen zutraute, so etwas durchzusetzen und meinte: „Dazu wäre das mächtige Großbritannien doch viel eher in der Lage als wir.“ Aber sie meinte: Wir haben zwar mehr politische Macht, aber ihr Polen habt die größere moralische Berechtigung, euch gegen die deutsche Wiedervereinigung zu stellen. Wegen eurer furchtbaren Erlebnisse, wegen dem, was euch die Deutschen angetan haben.“ Genauso dachte Frankreichs Präsident Mitterand. Aber er zeigte das nicht so ostentativ und hat das damals viel weniger publik gemacht. Meine Furcht wurde schon damals auch dadurch gemindert, dass ich viele  westdeutsche Politiker  wie Helmut Schmidt, Willi Brandt oder Egon Bahr gut kennengelernt hatte. Ich wusste, dass das aufgeklärte Leute sind, dass sie die europäische Probleme real sehen. Und dass man ihnen vertrauen konnte.

Sie haben ihre Meinung zur deutschen Einheit aber inzwischen geändert, oder?
Ja, obwohl die Erinnerung an die Naziokkupation noch lebendig war. Dazu kam die kontroverse Sache mit der Oder-Neiße Grenze. Heute empfinde ich eine Hochachtung für Deutschland, ohne ihnen große Komplimente machen zu wollen. Sie sind ein Volk mit einer großen Tradition, Kultur, und Literatur. Deutschland ist heute ein Musterbeispiel in Europa. Nicht nur in der Wirtschaft, Disziplin und Arbeit. Sondern auch ein Musterbeispiel für Demokratie. Und sie sind ein  menschenfreundliches Land, dass auch anderen Völkern hilft, zum Beispiel aktuell Griechenland, das jetzt vor allem auf Kosten Deutschlands gerettet, aus dem Sumpf gezogen wird. Aber auch wir Polen spüren, dass Deutschland uns hilfreich zur Seite steht. Zum ersten Mal in unserer Geschichte, und ich bin glücklich, dass ich das noch erlebe, haben wir Nachbarn, im Osten wie im Westen, die wir nicht fürchten müssen. Mit Deutschland haben wir einen Freund. Wenn es um Russland geht, haben sich dort bestimmte Sachen noch nicht herauskristallisiert. Aber ich achte die Russen als Menschen und mag sie sehr. Auch das heutige Russland ist für niemanden eine Bedrohung. Ja, es werden auch bei uns von gewissen polnischen Politikern Mythen verbreitet, die bestimmte Emotionen wecken sollen. Mythen, die Russen würden jemanden bedrohen. Es gibt auch polnische Politiker, die uns Angst vor Deutschland einreden wollen. Die Bedeutung dieser Politiker ist aber inzwischen marginal.